300288 Umwelt, Dinge, Körper – Systemtheoretische Zugänge zur Materialität des Sozialen (S) (SoSe 2012)

„Es geht nicht um die vermeintlich objektiven Tatsachen: dass die Ölvorräte abnehmen, die Flüsse zu warm werden, die Wälder absterben, der Himmel sich verdunkelt und die Meere verschmutzen. Das alles mag der Fall sein oder nicht der Fall sein, erzeugt als nur physikalischer, chemischer oder biologischer Tatbestand jedoch keine gesellschaftliche Resonanz, solange nicht darüber kommuniziert wird. Es mögen Fische sterben oder Menschen, das Baden in Seen oder Flüssen mag Krankheiten erzeugen, es mag kein Öl mehr aus den Pumpen kommen und die Durchschnittstemperaturen mögen sinken oder steigen: solange darüber nicht kommuniziert wird, hat dies keine gesellschaftlichen Auswirkungen.“ (Luhmann, Ökologische Kommunikation)

Aussagen wie diese werden im Mainstream der Umweltsoziologie häufig illustrativ zur Begründung der mehrheitlichen Ablehnung der Systemtheorie Niklas Luhmanns angeführt. Die entsprechende Kritik lautet, die Theorie betreibe einen radikalen Konstruktivismus, der kein Verständnis für die materiellen Aspekte, Bedingungen und Konsequenzen von Sozialität habe. Durch die Einordnung von Mensch und Natur in die Umwelt des Gesellschaftssystems habe sie jede theoretische Möglichkeit verbaut, soziologische Untersuchungen zu den Wechselwirkungen der Gesellschaft mit ihrer Umwelt anzuleiten und die Frage nach der Umwelt auf eine bloß semantische Analyse des gesellschaftlichen Redens über die Umwelt reduziert. Dieselbe Lesart der Theorie dürfte ebenfalls dafür mitverantwortlich zu sein, dass Luhmann in der jüngeren Diskussion um eine Soziologie der Dinge, die vor allem von der mit dem Namen Latour verbundenen Akteur-Netzwerk-Theorie geprägt wurde, kaum Beachtung gefunden hat. Die ebenfalls marginale Stellung der Systemtheorie im Bereich der Soziologie des Körpers, wo etwa Begriffe wie Habitus (Bourdieu) und Biopolitik (Foucault) die jüngere Forschung angeregt haben, ließe sich auch in diesen Zusammenhang stellen. Die Kritik aus diesen Lagern, sofern sie die Systemtheorie zur Kenntnis nehmen, lässt sich zuspitzen auf die These, Gesellschaft sei bei Luhmann ein immaterieller Gegenstand, Kommunikation ein ‚substanzloser’ Zusammenhang von Sinnbezügen – und deshalb sei eine Untersuchung von Umwelt-, Ding- und Körperbezügen jenseits von reinen Semantikstudien mit der Theorie nicht zu machen.

In der Übung soll eine entgegengesetzte Lesart der Systemtheorie zur Diskussion gestellt werden, wonach sozialen Systemen eine materielle Dimension inhärent ist: Körpern, Dingen und ‚der’ Umwelt werden durch Kommunikation sinnhaft Gestalt gegeben – was ebenso nichtintendierte, ‚sinnlose’ Folgen (etwa Klimawandel) nach sich zieht – und umgekehrt werden Sinnprozesse fortwährend durch physikalische, chemische und biologische Eigenschaften ihrer Prozessoren und Gegenstände konditioniert. Die Theorie bietet vielfältige Möglichkeiten, diese Prozesse der Materialisierung sozialer Ordnung zu untersuchen. In Auseinandersetzung mit der Kritik soll gezeigt werden, wie teilweise zu Recht beanstandete Lücken, Einseitigkeiten, Unklarheiten und Probleme mit theorieeigenen Mitteln zu behandeln sind. Das wesentliche Rezeptionshindernis dürfte nicht in der mangelnden Eignung der Theorie liegen, sondern in der geringen Aufmerksamkeit die Luhmann den entsprechenden Problemstellungen gewidmet hat. Es fehlt deshalb bisher weitestgehend an Studien, die den Begriffsapparat auf entsprechende Fragestellungen einstellen. Ausnahmen wie „Ökologische Kommunikation“, der Referenztext der Umweltdiskussion, sind im Vergleich mit anderen Publikationen eher en passant geschrieben. Solche Studien wird es brauchen, um die Rezeptionschancen der Theorie in den entsprechenden speziellen Soziologien zukünftig zu erhöhen. In diesem Sinne soll im Seminar eine Revision des Werkes unternommen werden, indem unterschiedliche Konzepte aus allen Werksphasen – System/Umwelt, Handlung/Kommunikation, Funktion, Sinn, Struktur, Erwartung, Codierung/Programmierung, usw. – an den Themenfeldern Umwelt, Körper, Dinge und Raum erprobt werden. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit Texten anderer Autoren – von Simmel bis Latour –, die das jeweilige Bezugsproblem formulieren.

Lernziele

Neben der Erarbeitung eines systemtheoretischen Zuganges zu den genannten Themenfeldern ist damit als zweites Lernziel der Veranstaltung die Vermittlung eines spezifischen Theorieverständnisses verbunden: Die Systemtheorie soll nicht als geschlossene und unveränderbare Denkmaschine verstanden werden, sondern als offenes, flexibles und wandelbares Instrumentarium, das auf spezifische Forschungsfragen jeweils neu einzustellen ist, das nicht als Dogma nur ganz oder gar nicht verstanden und verwendet werden kann, sondern das auch selektiv und pragmatisch verwendet werden kann. Die Übung soll also nicht einfach feststehendes Wissen über die Theorie vorstellen, sondern Möglichkeiten bieten, Kompetenzen in der Anwendung und kritischen Reflexion ihrer Begriffe zu erwerben.

Requirements for participation, required level

Interesse an theoretischen Fragestellungen, Lesebereitschaft, Diskussionsfreude.
Die Übung richtet sich primär an Studierende, die bereits Vorkenntnisse der Systemtheorie oder alternativer Ansätze zu dieser Thematik mitbringen. Entsprechendes Unwissen kann aber bei ausreichendem Interesse durch Engagement kompensiert werden.