Die Korrektur der Folgen funktionaler Differenzierung ist der Ausgangspunkt systemtheoretischer Steuerungskonzepte. Wie lassen sich eigensinnige Sozialsysteme zu (Selbst-) Korrekturen anregen, die vor „Selbstzerstörung und Umweltschädigung“ bewahren sollen?
Anfangs deuteten Antworten auf diese und verwandte Fragen vor allem auf das (reflexive) Recht (Teubner & Willke 1984) oder die Politik (Willke 1990er). Erst fast drei Jahrzehnte später finden sich in der entsprechenden Literatur Hinweise auf die besondere Bedeutung „exogener Pressionen“, „zivilgesellschaftlicher Gegenmacht“ oder „massiver öffentliche Kritik, die über die Medien weltweit verbreitet wird“ (Teubner 2010; 2011).
In der Lehrforschung widmen wir uns einer dieser für systemtheoretische Steuerungskonzepte neuen „Pressionäre“: Investigativ-Journalismus (IJ). Es soll theoretisch wie empirisch der Vermutung nachgegangen werden, dass dem IJ eine Sonderrolle in der Korrektur der Gesellschaft zukommt. Diese liegt möglicherweise weniger in der Selbst- wie Fremdbeschreibung einer Vierten Gewalt begründet. Die Lehrforschung wird besonderes Augenmerk auf Art und Weise legen, in der insbesondere jüngere IJ-Organisationen Publizität als Steuerungs- bzw. Korrekturmedium einsetzen. Um aus Publikationen „Druckerzeugnisse“ zu machen, bedarf es harter Arbeit; ebendiese steht im Zentrum des empirischen Interesses.
Zu Beginn dieser einsemestrigen Lehrforschung wird ein knapper Theorieblock stehen: Was ist unter „Folgen funktionaler Differenzierung“ zu verstehen? Welche Korrekturvorstellungen gab und gibt es? Was bedeutet Publizität als Steuerungs- bzw. Korrekturmedium? Was heißt Irritationsgestaltung?
Hieran schließt sich eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Funktionen und Leistungen des (Investigativ-)Journalismus an.
Im empirischen Fokus stehen zwei rezente IJ-Organisationen: Die US-amerikanische ProPublica und das deutsche Correct!v. Je nach Teilnehmerzahl können zu beiden Organisationen folgende Themenstellungen in Arbeitsgruppen bearbeitet werden:
1) Rekonstruktion der diese Organisationen leitenden Korrekturvorstellungen (Die Korrektur der Gesellschaft als Selbstbeschreibung)
2) Rekonstruktion konkreter Korrekturprozesse (Die Korrektur der Gesellschaft in Aktion)
Etwa ab der Hälfte der Sitzungen stehen die Projekte der Arbeitsgruppen im Vordergrund. Zur Bearbeitung des ersten Themenbereichs bieten sich Methoden rekonstruktiver empirischer Sozialforschung an (Deutungsmusteranalyse, Ethnomethodologische Konversationsanalyse, Objektive Hermeneutik). Für Projekte im zweiten Themenbereich könnte eine Kombination aus formaler Prozessrekonstruktion (etwa mithilfe der Event Structure Analysis und dem Programm ETHNO: http://www.indiana.edu/~socpsy/ESA/) und sequenzanalytischen „Tiefenbohrungen“ (mithilfe der unter 1) genannten Methoden) ratsam sein.
Gemeinsame Datensitzungen sind ausdrücklich erwünscht. Analysematerial wird zur Verfügung gestellt, ist darüber hinaus (insbesondere für Projekte aus Themenbereich 2) eigenständig zu recherchieren. Hierfür kann etwa die Campus-Lizenz für LexisNexis (http://www.nexis.com/home/home.do?randomNum=0.9533987028753358) genutzt werden.
Beide Organisationen dokumentieren ihre Projekte (samt etwaiger (Korrektur-)Resultate) online. Für ProPublica: http://www.propublica.org/about/impact/ und http://www.propublica.org/investigations/; für Correct!v: https://correctiv.org/correctiv/resultate/ und https://correctiv.org/recherchen/
Wird der zweite Themenbereich mit der Organisation ProPublica kombiniert, liegt eine Fülle möglicher Projekte vor. Hier könnte eine Zuspitzung durch eine Konzentration auf Fälle erreicht werden, zu denen es die wohl sichtbarste Form von Korrektur gibt: Veränderungen im Recht - womit sich wie nebenbei der Kreis zu den Anfängen systemtheoretischer Steuerungskonzepte schließen ließe.
Voraussetzung ist das Interesse an:
System- und Differenzierungstheorie
Methoden qualitativer Sozialforschung
Selbstredend ist im Vorteil, wer darüber hinaus bereits Kenntnisse in diesen Bereichen erworben hat. Mit einer Anmeldung wird vor allem die Bereitschaft dokumentiert, sich vertieft mit den oben beschriebenen Fragestellungen und den zu ihrer Bearbeitung notwendigen theoretischen wie methodischen Voraussetzungen auseinanderzusetzen.
Kenntnisse der Rechts-, Organisations- und Mediensoziologie sind sicher hilfreich, werden aber ebenfalls nicht vorausgesetzt.
Bei mehr als 20 Teilnehmer_innen behält sich der Veranstalter die Möglichkeit vor, um knappe Essays zur Begründung der Teilnahmemotivation zu bitten.
Blöbaum, Bernd (1994) Journalismus als soziales System. Geschichte, Ausdifferenzierung und Verselbständigung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Luhmann, Niklas (1996) Protest: Systemtheorie und soziale Bewegungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Mölders, Marc (2015) Das Janusgesicht der Aufklärung und der Lenkung. Irritationsgestaltung: Der Fall ProPublica. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 63: 3-17.
Mölders, Marc (2015; im Erscheinen) Der Wachhund und die Schlummertaste. Zur Rolle des Investigativ-Journalismus in Konstitutionalisierungsprozessen. Zeitschrift für Rechtssoziologie 35
Stichweh, Rudolf (2002) Die Entstehung einer Weltöffentlichkeit, S. 57-66 in H. Kaelble, M. Kirsch & A. Schmidt-Gernig (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M., New York: Campus.
Teubner, Gunther (2011) Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes, S. 49-100 in S. Kadelbach & K. Günther (Hrsg.), Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung. Frankfurt a. M., New York: Campus.
Teubner, Gunther & Willke, Helmut (1984) Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht. Zeitschrift für Rechtssoziologie 6: 4-35.
Trumpy, Alexa J. (2008) Subject to Negotation: The Mechanisms Behind Co-Optation and Corporate Reform. In: Social Problems 55: 480-500.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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30-M-Soz-M15_LF1 Lehrforschung Rechts- und Regulierungssoziologie | Alternativ zu Seminar 1 und Seminar 2: großes Seminar | Studienleistung
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Studieninformation |
- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation | |
30-MGS-6b Angewandte Geschlechterforschung - Lehrforschung | Alternativ zu Seminar 1 und Seminar 2: großes Seminar | Studienleistung
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Studieninformation |
- | unbenotete Prüfungsleistung | Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Aktive Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe. Es gelten die für Lehrforschungen üblichen Anforderungen.