„Mündig ist“, einem Wort Theodor W. Adornos zufolge, in dem durchaus der alten Kantsche Hauptpunkt der Aufklärung gesellschaftstheoretisch aufgehoben ist, „der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet; der nicht bevormundet wird. Das erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt“. Das ist weit mehr Forderung denn bereits realisierte Wirklichkeit.
Im Gespräch mit Hellmut Becker, veröffentlicht unter dem Titel „Erziehung zur Mündigkeit“, macht Adorno verschiedene Vorschläge einer ermündigenden Erziehung. So sagt er, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben: „Ich könnte mir etwa denken, daß man auf den Oberstufen von höheren Schulen aber wahrscheinlich auch von Volksschulen gemeinsam kommerzielle Filme besucht und den Schülern ganz einfach zeigt, welcher Schwindel da vorliegt, wie verlogen das ist; daß man in einem ähnlichen Sinn sie immunisiert gegen gewisse Morgenprogramme, wie sie immer noch im Radio existieren, in denen ihnen sonntags früh frohgemute Musik vorgespielt wird, als ob wir, wie man so schön sagt, in einer ‚heilen Welt’ leben würden, eine wahre Angstvorstellung im übrigen; oder daß man mit ihnen einmal eine Illustrierte liest und ihnen zeigt, wie dabei mit ihnen unter Ausnutzung ihrer eigenen Triebbedürftigkeit Schlitten gefahren wird... So daß man einfach versucht, zunächst einmal überhaupt das Bewußtsein davon zu erwecken, daß die Menschen immerzu betrogen werden… Man kann sie [die Massenkultur; D.L.]… den jungen Menschen madig machen. (...) Ich würde eine solche Erziehung des ‚Madigmachens’ außerordentlich advozieren“.
Solche Erziehung des Madigmachens setzt genaues Wissen um den Gegenstand, der die Individuen entmündigt und insofern madig zu machen wäre, voraus. Vor mehr als achtzig Jahren hat Max Horkheimer Überlegungen zur Gewinnung eines solchen Wissens angestellt. Bei Gelegenheit der Übernahme des Direktoren-Amts des Instituts für Sozialforschung spricht er davon, daß der Leitfaden der kollektiven Forschungsarbeit die Frage „nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen auf den Kulturgebieten im engeren Sinn, zu denen nicht nur die sogenannten geistigen Gehalte der Wissenschaft, Kunst und Religion gehören, sondern auch Recht, Sitte, Mode, öffentliche Meinung, Sport, Vergnügungsweisen, Lebensstil u.s.f.“ ist.
Helmut Dahmer hat 2001 unter dem Titel „Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert“ eine Broschüre veröffentlicht, die im Kern das Horkheimersche Programm aufgreift und so die Möglichkeit der Aktualisierung einer ‚Erziehung des Madigmachens’ eröffnet. Die Broschüre, die die Absicht verfolgt, die Entstehung und Entwicklung jeweils geltender, institutionalisierter Lebensformen dem Vergessen zu entreißen, steht im Zentrum des Seminars. Mit Dahmer wird „Freuds Theorie der Kultur“ ebenso Gegenstand wie „Nietzsches Moral- und Wissenschaftskritik“ sowie die Phänomene „Xenophobie und Gewalt“. Gerahmt wird der Schwerpunkt vom bereits erwähnten Gespräch Adornos und aktuellen Anschlüssen sowie Horkheimers Antrittsrede.
Adorno, Theodor W. 1970: Erziehung nach Auschwitz, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker. 1959 – 1969, Frankfurt am Main.
Adorno, Theodor W. 1970: Erziehung zur Mündigkeit, in: ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker. 1959 – 1969, Frankfurt am Main.
Adorno, Theodor W. 1971: Kritik, in: ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main.
Ahlheim, Klaus 2010: Theodor W. Adornos „Erziehung nach Auschwitz“ – Rezeption und Aktualität, in: ders., Matthias Heyl (Hg.): Adorno revisited. Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute, Hannover.
Dahmer, Helmut 2001: Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert, Wien.
Horkheimer, Max 1988: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 3: Schriften 1931 – 1936, Frankfurt am Main.
Messerschmidt, Astrid 2010: Widersprüche der Mündigkeit – Anknüpfungen an Adornos und Beckers Gespräch zu einer „Erziehung zur Mündigkeit“ unter aktuellen Bedingungen neoliberaler Bildungsreformen, in: Ahlheim, Klaus, Matthias Heyl (Hg.): Adorno revisited. Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute, Hannover.
Türcke, Christoph/Bolte, Gerhard 1994: Einführung in die kritische Theorie, Darmstadt.
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25-BE8 Bildung: Theorien und Institutionen | E1: Bildungstheorie und -geschichte | Study requirement
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