360057 Grundlagen der Religionspsychologie: Kann man Glauben messen? Die empirische Erforschung der Religiosität (S) (SoSe 2010)

Inhalt, Kommentar

Ist der Glaube eines Menschen, ist Religiosität messbar? Viele Gründe scheinen dagegen zu sprechen. Die eigene Religiosität ist etwas zutiefst Persönliches, Privates, und insofern auch immer etwas sehr Subjektives, das sich von daher einer Quantifizierung und Vergleichbarkeit zu entziehen scheint. Dieses Problem verschärft sich, wenn nicht allein die Ausdrucksformen einer einzelnen religiösen Tradition, z.B. des lutherischen Protestantismus, vermessen werden sollen, sondern die Religiosität (von Juden, Christen, Muslimen, Hinuds, Buddhisten usw.) vergleichbar gemessen werden sollen. Entsprechende Versuche werden darum z.B. auch innerhalb der phänomenologischen Religionswissenschaft als Vergleich von „Äpfeln mit Birnen“ gänzlich abgelehnt. Der aus theologischer Sicht aber sicherlich gewichtigste Kritikpunkt betrifft die Problematik, dass jeder Versuch einer Messung am Bezugspunkt der Religiosität – am Heiligen, Übernatürlichen, Transzendenten, Göttlichen – an ihre Grenzen kommen muss. Gerade die protestantische Theologie hat von Luther und Calvin über Karl Barth bis zur „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ von 1999 immer wieder nachdrücklich betont, dass der Glaube etwas von Gott Geschenktes und von daher für menschliche Eigenmächtigkeit unverfügbar ist. Ihn messen zu wollen stünde damit geradezu im Gegensatz zum evangelischen Selbstverständnis (deswegen sind alle theologischen, psychologischen oder soziologischen Versuche, sich entsprechend mit Religiosität zu befassen, z.B. von Karl Barth auch radikal angefeindet worden).
Trotz all dieser berechtigten Zweifel und Kritik wurde und wird in den Sozialwissenschaften und auch in Religionspädagogik und Theologie Religiosität „gemessen“. Lange Zeit bestimmte dabei die Fragebogenforschung das Vorgehen; v.a. zwei Fragebogenkonzepte bestimmten die Methodik über mehrere Jahrzehnte: zum einen die multidimensionale Messung von Religiosität in Anlehnung an Charles Y. Glock (v.a. in der Soziologie) und zum anderen die Unterscheidung zwischen einer intrinsische motivierten und einer extrinsisch motivierten Religiosität anhand geeigneter Fragebogenskalen im Sinne Gordon W. Allports (v.a. in der Psychologie). Im Zuge der sozialwissenschaftlichen Wende in der Pädagogik entstanden dann auch in der Religionspädagogik messmethodische Ansätze, von denen das „Faith Development Interview“ James Fowlers und das problemzentrierte Interview zum religiösen Urteil von Fritz Oser und Paul Gmünder, auf deren Basis komplexe Theorien zur religiösen Entwicklung formuliert wurden, die bekanntesten sind. Seit den 1990er Jahren hat sich sowohl die Vielfalt der Messverfahren (Fragebögen, Interviews, Experimente, bildgebende neuropsychologische Verfahren) als auch die Bandbreite der innerhalb eines Verfahrenstyps zur Verfügung stehenden Messinstrumente (Fragebogenskalen, Interviewvarianten, reaktionszeitbasierte Experimente am Computer, Kernspintomographie und Elektroenzephalogramm u.v.a.) enorm vergrößert. Bücher wie Andrew Newbergs „Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht“ oder Ulrich Schnabels „Die Vermessung des Glaubens. Forscher ergründen, wie der Glaube entsteht und warum er Berge versetzt“, in denen diese Forschung für eine breitere Öffentlichkeit beschrieben wird, sind mittlerweile Bestseller.
Das Seminar versucht, einen Bogen von der theologischen Kritik an einer Messbarkeit des Glaubens bis hin zu den vielfältigen gegenwärtigen Messverfahren zu spannen und dabei anhand unterschiedlicher Beispiele einen Überblick über die bestehenden Verfahrensklassen zur Messung von Religiosität zu geben. Ziel ist es, entsprechende Messverfahren verstehen und in Bezug auf ihre religionspädagogischen, theologischen und psychologischen Potenziale wie Grenzen beurteilen zu lernen. Die folgenden Fragen werden dabei bestimmend sein:
- Welche Verfahren zur Messung von Religiosität gibt es?
- Wie lässt sich Religiosität mittels dieser Messverfahren empirisch untersuchen?
- Welche Erkenntnisse lassen sich dadurch über Religiosität gewinnen? Welchen Einschränkungen unterliegen die Messverfahren?
- Welche religiösen, theologischen und religionswissenschaftlichen Kritikpunkte gibt es an den Versuchen, Religiosität empirisch zu messen?
- Welche Potenziale bieten Untersuchungen, in denen die Messverfahren eingesetzt werden, für Psychologie, Theologie und Religionspädagogik?
Durch die Diskussion der genannten Fragestellungen erwerben Studierende die Kompetenz, die Messverfahren, über die das heute vorhandene empirische Wissen über Religiosität gewonnen wurde, kritisch zu beurteilen und auf ihre eigenen berufspraktischen Arbeitsfelder in Schule, Klinik oder therapeutischer Praxis anzuwenden. Religionslehrerinnen und Religionslehrer stehen vor der Herausforderung, Schüler und Schülerinnen in ihrer religiösen Entwicklung zu begleiten und anzuleiten. Um die Entwicklung der Religiosität adäquat einschätzen zu können, braucht es geeignete Methoden (oder zumindest Kriterien, die anhand dieser Methoden gewonnen wurden), und eben um diese Methoden geht es im Seminar. Aber auch in der psychologischen Praxis kommt das Thema Religiosität, wie aktuelle Studien belegen, deutlich häufiger vor als gemeinhin angenommen. Insofern stehen Klinikpsychologen und Therapeutinnen mitunter vor der Herausforderung, die Religiosität ihrer Klienten diagnostisch valide zu beurteilen, und auch dazu erweisen sich viele der im Seminar vermittelten Methoden als hilfreich. Durch die bewusst interdisziplinäre Ausrichtung des Seminars für Studierende der Theologie und Psychologie gewinnen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zudem einen Einblick in die Probleme, Methoden und Denkweisen anderer Studienfächer und schärfen damit ihre reflexive und argumentative Kompetenz.

Literatur (Forts.)
Newberg, A., D'Aquili, E. & Rause, V. (2003). Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht. München: Pieper.
Schnabel, U. (2008). Die Vermessung des Glaubens. Forscher ergründen, wie der Glaube entsteht und warum er Berge versetzt. München: Blessing.
Streib, H. (2005). Faith development research revisited: Accounting for diversity in structure, content, and narrativity of faith. The International Journal for the Psychology of Religion, 15, 99–121.
Wolfradt, U. & Müller-Plath, G. (2003). Quantitative Methoden in der Religionspsychologie. In C. Henning, S. Murken & E. Nestler (Hrsg.), Einführung in die Religionspsychologie (S. 164-183). Paderborn: Schöningh.
Zwingmann, C. (2005). Erfassung von Spiritualität/Religiosität im Kontext der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Psychotherapie, Psychosomatik, medizinische Psychologie, 55, 241-246.
Zwingmann, C., Klein, C. & Höfling, V. (im Druck). Messung von Religiosität/Spiritualität im Rahmen der Gesundheitsforschung: Deutschsprachige Skalen. In C. Klein, H. Berth & F. Balck (Hrsg.), Die Bedeutung von Religion für die Gesundheit. Konzepte – Befunde – Erklärungsansätze (S. XX). Weinheim: Juventa.

Teilnahmevoraussetzungen, notwendige Vorkenntnisse

Keine formalen Teilnahmevoraussetzungen; die Bereitschaft zur regelmäßigen aktiven Mitarbeit und die Lektüre der u.g. Texte (in Auswahl) zur Vorbereitung wird vorausgesetzt

Literaturangaben

Zur Vorbereitung auf das Seminar empfiehlt sich die folgende Literatur:
Azari, N.P, Nickel, J., Wunderlich, G., Niedeggen, M., Hefter, H., Tellmann, L., Herzog, H., Stoerig, P., Birnbacher, D. & Seitz, R. (2001). Neural correlates of religious experience. European Journal of Neuroscience, 13, 1649-1652.
Grom, B. (32007). Religionspsychologie. München: Kösel.
Hill, P.C. & Hood, R.W. (Eds.) (1999). Measures of religiosity. Birmingham/ AL: Religious Education Press.
Huber, S. (1996). Dimensionen der Religiosität. Skalen, Messmodelle und Ergebnisse einer empirisch orientierten Religionspsychologie. Freiburg/CH: Universitätsverlag & Bern: Hans Huber.
Huber, S. (2009). Der Religionsmonitor 2008: Strukturierende Prinzipien, operationale Konstrukte, Auswertungsstrategien. In Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008 (S. 17-52). Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Mehnert, A. & Koch, U. (2001). Religiosität und psychische Befindlichkeit – Überprüfung von Instrumenten zur Erfassung von Religiosität. Zeitschrift für Medizinische Psychologie, 10, 171-182.

Lehrende

Termine ( Kalendersicht )

Rhythmus Tag Uhrzeit Format / Ort Zeitraum  
wöchentlich Mi 14-16 D2-136 14.04.-21.07.2010
nicht am: 19.05.10
einmalig Mi 14-16 U0-131 07.07.2010

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Fachzuordnungen

Studiengang/-angebot Gültigkeit Variante Untergliederung Status Sem. LP  
Evangelische Theologie / Bachelor (Einschreibung bis SoSe 2011) Kern- und Nebenfach PT/RP Ic; PT/RP II/1a; PT/RP II/2a   3  
Evangelische Theologie / Master of Education (Einschreibung bis SoSe 2014) PT/RP Ic; PT/RP II/1a; PT/RP II/2a   3  
Psychologie (Kernfach) / Bachelor (Einschreibung bis SoSe 2011) Kernfach Individuelle Ergänzung    

Voraussetzungen für die Vergabe von Leistungspunkten sind die regelmäßige Teilnahme und die aktive Mitarbeit in Form von unbenoteten Einzelleistungen (Diskussionsbeiträge, Referate u.a.), wofür 3 Leistungspunkte vergeben werden. Zudem besteht die Möglichkeit, über schriftliche Hausarbeiten einen Modulabschluss zu erwerben.

Kein E-Learningangebot vorhanden
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Adresse:
SS2010_360057@ekvv.uni-bielefeld.de
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Reichweite:
3 Studierende direkt per E-Mail erreichbar
Hinweise:
Weitere Hinweise zu den E-Mailverteilern
Letzte Änderung Grunddaten/Lehrende:
Freitag, 11. Dezember 2015 
Letzte Änderung Zeiten:
Mittwoch, 30. Juni 2010 
Letzte Änderung Räume:
Mittwoch, 30. Juni 2010 
Art(en) / SWS
Seminar (S) / 2
Einrichtung
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie / Abteilung Theologie und Diakoniewissenschaft
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ECTS Punkte
3
(Siehe auch die LP-Angaben bei den Fachzuordnungen)
ID
16702260