230346 The subaltern writes back - Minoritäre 'Rewritings' kanonischer Texte (S) (WiSe 2016/2017)

Eine „contre-enquête“ nannte der algerische Schriftsteller Kamel Daoud seinen 2014 erschienenen Roman „Meursault“ im Untertitel - eine „Gegenuntersuchung“: Jahrzehnte nachdem der Literaturnobelpreisträger Albert Camus eben jenen nun titelgebenden Meursault zur Hauptfigur seines Romans „Der Fremde“ machte und ihn die dort namenlos bleibende Hauptfigur ermorden ließ, dreht Daoud den Spieß um – das bei Camus nur als „Araber“ benannte Opfer bekommt nicht nur einen Namen; es wird nun auch seine Version der Geschichte erzählt und erhört.
Solche Umschriften kanonischer Texte werden wir im Seminar – zusammen mit ihren prominenten Vorläufern – in den Blick nehmen: postkoloniale Bearbeitungen von Shakespeares „The Tempest“ (u.v.a. Aimé Césaires „Une tempête“, Marina Warners „Indigo“) oder Charlotte Brontës „Jane Eyre“ (z.B. Jean Rhys „Wide Sargasso Sea“) richten den Fokus auf die dort marginalisierten ‚ethnischen Anderen‘, feministische Texte lassen statt der mythischen männlichen Helden deren (zuhause gebliebene) Frauen zu Wort kommen – Penelope statt Odysseus (wie in Inge Merkels „Eine ganz gewöhnliche Ehe“), Elizabeth statt James Cook (wie in Anna Enquists „De thuiskomst“) oder Eurydike statt Orpheus (wie in Elfriede Jelineks „Schatten (Eurydike sagt)“) –, Lot Vekemans „Ismene, Schwester von“ schließlich bringt bereits im Titel das Schicksal eines bislang gänzlich ‚übersehenen‘ Familienmitglieds zum Ausdruck, dessen nächste Verwandte Antigone schon jahrtausendelang Literaturgeschichte geschrieben hat.

Als theoretische Basis zur Untersuchung dieser Textform des kritischen „Re-Writings“ werden wir neben den o.g. Ansätzen auch kritische Konzepte von Weltliteratur, Kanon und Intertextualität diskutieren und bei den anschließenden Analysen zugrunde legen.

Die endgültige Auswahl (der deutschen Übersetzungen) der Texte werden wir in den ersten Seminarsitzungen gemeinsam treffen.