Prof. Dr. Alexander Krämer/ Michael Medzech
Zum Gesundheitsbegriff in Medizin und Gesundheitswissenschaften:
Update your health!? Digitalisierte Gesundheit und Selbstoptimierung im 21. Jahrhundert (Zum Begriff der Gesundheit II):
Harte Indikatoren für den gesundheitlichen Zustand von Bevölkerungen sind Mortalität und Lebenserwartung in einer Gesellschaft. Weltweit lässt sich seit längerem eine Zunahme der Lebenserwartung des Menschen beobachten, wobei große regionale Unterschiede zwischen Ländern mit hohem und niedrigem Einkommen bestehen (high- versus low-income countries). Zusätzlich ist die Lebenserwartung abhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht (hohe versus untere Schicht). In diesem Zusammenhang wird der theoretische Diskurs beherrscht vom Paradigma oder Konstrukt der „sozialen Ungleichheit“, welches für die modernen Gesundheitswissenschaften prägend ist.
Dabei wird der Gesundheits- (bzw. Krankheitsbegriff) vor allem deskriptiv oder phänomenologisch verwendet. Insgesamt bestehen aber erhebliche Theoriedefizite hinsichtlich der Auffassung und des Verständnisses der Rolle und Funktion von „Gesundheit“ und der Dynamik des Gesundheitsbegriffs. Der Gesundheit kommt in modernen Gesellschaften eine große subjektive Bedeutung zu, wenn man zugrunde legt, dass ihre eigene Gesundheit und die ihrer Familienangehörigen für die meisten Menschen als prioritär angesehen werden. Dies kann bis zur Rolle von Gesundheit als Fetisch reichen („Healthismus“), wenn die Bedeutung von Gesundheit für das Leben überhöht weil alle anderen Bereiche des Lebens dominierend angesehen wird.
Dem entgegen steht eine dem ökonomische Primat unterzuordnende Gesundheit. Hier verkommt Gesundheit zur Ware. Dafür stellt die Sehnsucht nach Selbstoptimierung ein modernes Korrelat dar. Hintergrund ist der Zwang in einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft als Individuum gegenüber anderen bestehen zu können, oder auch als z.B. europäische Gesellschaft gegenüber den USA und China kompetitiv zu sein.
Auf Bevölkerungsebene setzt eine solche darwinistische Sichtweise die Konzepte der Biopolitik fort, welche in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene pervertiert wurden. Auch wenn diese Art von Reduktionismus glücklicherweise nicht mehr das Problem ist, lohnt es sich zum besseren theoretischen Verständnis des Gesundheitsbegriffs, 1. die Evolution dieses Begriffs seit der Antike an ausgewählten Beispielen aufzuzeigen, und 2. nach möglichen reduktionistischen Tendenzen in modernen bürokratisch und technokratisch verfassten Gesellschaften Ausschau zu halten.
Anders gesagt geht es dabei auch um einen Gesundheitsbegriff, der seine Macht dadurch entfaltet, dass mit seiner Hilfe die Steuerung (und Manipulation) von Bevölkerungen erst ermöglicht wird. In den Dienst solcher Manipulationen sollten Prävention und Gesundheitsförderung – Grundkonstrukte moderner Gesundheitswissenschaften oder Public Health – nicht gestellt werden, ebenso wie technizistische Fehlentwicklungen zu vermeiden sind.
Außer der Betrachtung von methodischen bzw. wissenschaftstheoretischen Unterschieden beim Gesundheits- (und Krankheitsbegriff) bei den verschiedenen ausgewählten Autoren soll ein weiterer sich durch die Veranstaltung ziehender roter Faden darin bestehen, dass die theoretische Verortung des Gesundheitsbegriffs bei diesen betrachteten Autoren bzw. Denkern unter einer Global Public Health-Perspektive fruchtbar gemacht werden soll. D.h. der Gesundheitsbegriff wird beleuchtet hinsichtlich der vergleichenden Betrachtung von Krankheitslasten in verschiedenen Ländern, Kontinenten und Gesellschaften (Global Burden of Disease-Studie), der Rolle von Gesundheit bei globalen Migrationsbewegungen (inter-, trans- und ggf. hyperkulturelle Sichtweise) und von Auswirkungen des globalen Klimawandels auf die Gesundheit des Einzelnen und betroffener Populationen.
Nachdem wir uns im Wintersemester 2019/20 einführend die Gesundheitsbegriffe und das Gesundheits- und Krankheitsverstehen in der Antike (z.B. Aristoteles, Galen), dem Mittelalter und der beginnenden Neuzeit (von Bingen, Paracelsus) und der Moderne (Heidegger, Freud, Fleck, Canguilhem, Foucault, Deleuze/Guattari, Becker) vergegenwärtigt, aufgearbeitet und vergleichend hinsichtlich methodologischer und konzeptioneller Unterschiede unter Berücksichtigung des jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Kontextes diskutiert haben, sind für die Fortsetzung des Seminars im Sommersemester 2020 die folgenden Schwerpunkte geplant. Dieses Mal werden wir basierend auf unseren bisherigen Überlegungen und Reflektionen besonders aktuelle Themen der Theorie von Gesundheit und Krankheit behandeln, die zurzeit aus interdisziplinärer Perspektive adressiert werden. Die Veranstaltung wendet sich wieder an Hörer*innen aller Fakultäten und vergibt die Studienleistung wie im eKVV aufgelistet im Rahmen der „individuellen Ergänzungsleistung“.
Vorläufiger Seminarplan Sommersemester 2020 (Stand 24.02.2020):
1. Veranstaltung 20.04.2020
Einführung: Gesundheit im 21. Jahrhundert
'''Spezial: Interaktives neues Dashboard zur Reproduktionszahl R(t) für Covid-19
(Alexander Krämer, Bielefeld)'''
2. Veranstaltung 27.04.2020
Gesundes Gewebe oder Gewebe der Gesundheit? - Aussichten aus philosophischen Blickwinkeln
(Michael Medzech, Lübbecke)
3. Veranstaltung 04.05.2020
Übersicht: Ethische Fragen in Medizin und Gesundheitswissenschaften
(Prof. Ralf Stöcker, Bielefeld)
4. Veranstaltung 11.05.2020
Die Rendition des Körpers - Gesundheitsberichterstattung bis zur totalen Überwachung: Shoshana Zuboff & Harald Welzer)
(Studierende)
5. Veranstaltung 18.05.2020
Ökonomisierung der Gesundheit: Colin Crouch
(Studierende)
6. Veranstaltung 25.05.2020
Die Gesellschaft der Wearables - Digitale Verführung und soziale Kontrolle: Anna-Verena Nosthoff & Felix Maschewski
(Studierende)
7. Veranstaltung 08.06.2020
Meine Schmerzen und die Schmerzen der Anderen
(Prof. Clemens Haerle, Siena)
8. Veranstaltung 15.06.2020
Digitale Medizin, Beschleunigung und Resonanz: Hartmut Rosa
(Studierende)
9. Veranstaltung 22.06.2020
Der Duft der Zeit - Gesundheit, Langsamkeit und Weile: Byung-Chul Han
(Studierende)
10. Veranstaltung 29.06.2020
Diversität, Geografie und Kultur von Gesundheit im 21. Jahrhundert:
Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)
(Dr. Klingsiek, Bielefeld)
11. Veranstaltung 06.07.2020
Unterschiede im Gesundheitsverstehen zwischen Orient und Okzident: Persische und arabische Medizin - Ein geschichtlicher Überblick bis heute
(Dr. Ebrahimi und Dr. Özisik, Bielefeld)
12. Veranstaltung 13.07.2020
Abschließende Diskussion
Literaturempfehlungen (Stand 24.02.2020)
Agus, David B.: The end of illness. New York: Simon and Schuster 2011.
Baecker, Dirk: 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt, Leipzig: Merve 2018.
Canguilhem, Georges: La santé: concept vulgaire et question philosophique, in Écrits sur la médecine, Paris 2002, S. 49-68.
Cavell, Stanley: Knowing and acknowledging, in Must We Mean What We Say?, Cambridge University Press 2015, S. 220-239.
Crouch, Colin: Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht. Berlin: Suhrkamp 2017 (orig. 2015).
Ferber, Ilit: Language Pangs, On Pain and the Origin of Language, Oxford University Press 2019.
Fischer F, Krämer A.: eHealth in Deutschland – Anforderungen und Potenziale innovativer Versorgungsstrukturen. Berlin, Heidelberg: Springer 2016
Han, Byung-Chul: Der Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. 7. Aufl. Bielefeld: Transcript 2013 (orig. 2009).
Nosthoff, Anna-Verena; Maschewski, Felix: Die Gesellschaft der Wearables - Digitale Verführung und soziale Kontrolle. Berlin: Nicolai Publishing
Proft, Ingo; Zaborowski, Holger (Hrsg.): Gesundheit – das höchste Gut? Anfragen aus Theologie, Philosophie und Pflegewissenschaft. Freiburg: Herder 2019.
Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. 2. Aufl. 2016.
Sophokles: Philoktet. Aus dem Griechischen von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt am Main 2006.
Eric Topol: Deep Medicine – How articifial intelligence can make healthcare human again. New York: Hachette Book Group 2019
Welzer, Harald: Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit. Frankfurt am Main: Fischer 2016.
Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt: Campus 2018.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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40-M27 Ergänzungsmodul Gesundheitskommunikation 1 | Seminar 2 | Studienleistung
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Studieninformation |
40-MPH-9 Ergänzungsmodul Gesundheitswissenschaften | Seminar 2 | Studienleistung
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Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Referat zu den angegebenen Themen einschließlich Handout