Kritische Positionen zu den Universitätsreformen der letzten Jahrzehnte dürfen in Universitäten mindestens auf Ebene von Schlagworten wie Verschulung, Bürokratisierung, Ökonomisierung und Elitenbildung als allgemein bekannt unterstellt werden. Auch Soziologen haben sich im öffentlichen Diskurs prominent in der Kritikerrolle engagiert. Die Mehrheit dieser Einlassungen weisen, wenn man sehr grob vereinfacht, unter zwei Gesichtpunkten einen Hang zum Zeitdiagnostischen auf: Erstens handelt es sich um Verfallsnarrative, in denen gegenwärtige Probleme der Hochschulen zugespitzt und explizit oder implizit als Untergang einer Universität Humboldtscher Prägung beklagt werden, in der noch Freiheit und Einheit von Forschung und Lehre herrschten. Zweitens meidet die populäre Kritik üblicherweise eine tiefer gehende Rückbindung an und Verunsicherung durch die soziologische Theoriebildung.
Vor diesem Hintergrund verfolgt das Seminar zwei komplementäre Absichten. Erstens soll anhand klassischer (Weick, Bourdieu, Schelsky, usw.) und aktueller gesellschaftstheoretischer und organisationssoziologischer Arbeiten ein differenzierter analytischer Rahmen zur Auseinandersetzung mit Universitätsstrukturen und ihren Folgeproblemen erarbeitet werden, in den sich die Reformdebatte einordnen lässt.
Zweitens – hierin liegt der thematische Schwerpunkt des Seminars – soll den vorherrschenden Verfallsnarrativen eine weniger pessimistische systemtheoretische Perspektive gegenübergestellt werden, die sich wie folgt skizzieren lässt:
Organisationen sind typischerweise primär einem Funktionssystem (Feld, usw.) der Gesellschaft zugeordnet, an dessen Leistungsproduktion sie teilhaben: man denke an Unternehmen, Parteien, Kirchen, Verlage, Museen, Schulen, usw. Universitäten weichen von diesem Muster ab, denn sie sind zugleich zentrale Organisationen des Wissenschafts- und des Bildungssystems. Von daher ist es eine spannende theoretische Frage, wie Universitäten diese Kopplung zweier gesellschaftlicher Logiken traditionell überhaupt bewerkstelligen, in welcher Weise wissenschaftlicher und bildungsmäßiger Sinn vermittelt werden und welche Folgeprobleme dabei auftreten. Dies führt zu der zu diskutierenden These, dass die Reformen der letzten Jahre auch als Ausdruck einer stärkeren Verselbstständigung, Separierung und Rekombination von Wissenschafts- und Bildungskommunikation begriffen werden können.
Hieran lassen sich weitere Fragen anschließen: Wie viel Wissenschaftlichkeit braucht ein Studium und wozu? Wie lassen sich Bildung, Ausbildung und Erziehung im Kontext des Studiums soziologisch zeitgemäß bestimmen? Wie ist das Verhältnis von Hochschule und gesellschaftlicher Umwelt zu verstehen? Eine derartige Betrachtungsweise bedeutet keineswegs den Verzicht auf soziologisch fundierte Kritik an konkreten Reformen. Vielmehr geht es darum, den bloßen Rekurs auf eine idealisierte Vergangenheit durch höher generalisierte und sich verändernden gesellschaftlichen Umweltbedingungen angemessenere Maßstäbe für ein kritisches Urteil zu ersetzen.
In dem differenzierungstheoretischen Rahmen wird der Organisationssoziologie besondere Beachtung geschenkt. Auch dort wurden Universitäten – im Vergleich mit Unternehmen oder politischen Verwaltungen – überwiegend als schwache und atypische Organisationen ('loosly coupled systems', 'organized anarchies', 'garbage can model of decision') beschrieben. Inwiefern lassen sich die Eigentümlichkeiten der Organisationsstrukturen auf die spezifischen Kommunikationsstile in Wissenschaft und Bildungssystem zurückführen? Sind die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte als Ausdifferenzierungsschübe der Organisationsebene in Wissenschafts- und Bildungssystem zu begreifen? Welche Potentiale der organisatorischen Rationalisierung von Wissenschafts- und Bildungskommunikation liegen hier? Inwiefern hat mehr Organisation dysfunktionale Effekte auf diese Kommunikationslogiken? In diesen Zusammenhang können die Debatten um New Public Management, Kennziffernsteuerung, Evaluation, usw. eingeordnet werden.
Schließlich soll auch die schichtungssoziologische Betrachtungsweise gewürdigt werden. Insbesondere Pierre Bourdieu hat das Bildungssystem im Allgemeinen und die Universität im Besonderen als Institutionen der Reproduktion sozialer Ungleichheit beschrieben. Anhand seiner klassischen Studien lassen sich immer noch vortrefflich die universitäeren Mechanismen der Vererbung und Legitimierung von gesellschaftlichem Status durch dessen Transformation in Bildungserfolge studieren. Zugleich werfen diese Analysen gegenwärtig die spannende Frage auf, ob nicht die Klagen über Verschulung, usw. gerade Ausdruck einer schichtmäßigen Öffnung der Hochschulen darstellen. Denn der kritisierte Bedeutungsverlust von spezifischen sprachlichen und kognitiven Qualitäten in den neuen Studienmodellen kann als institutionelle Entwertung von eben jenem schichtspezifischen kulturellen Kapital gelesen werden, auf dem traditionell die akademische Überlegenheit von Oberschichtabkömmlingen basiert. Welchen Wert hat es noch intellektuell und rhetorisch im Seminar zu brillieren, wenn es für die 'aktive Teilnahme' darauf gar nicht mehr ankommt?
Lernziele
- Erwerb von Kenntnissen in den Bereichen Universitätsstrukturen, Systemtheorie, Theorie funktionaler Differenzierung, Möglichkeiten der Verknüpfung von Gesellschaftstheorie- und Organisationssoziologie
- Einübung und Vertiefung der selbstständigen und kreativen Anwendung von systemtheoretischen bzw. differenzierungstheoretischen Argumentationsfiguren
- Kritische Reflexion der universitären Alltagsempirie durch Theoriearbeit
- Infragestellung von Vorurteilen und vermeintlichen Gewissheiten beim Thema Hochschulreformen
Grundkenntnisse der Systemtheorie bzw. der Theorie funktionaler Differenzierung sollten vorhanden sein, da es im Seminar darum geht, die oben vorgestellte Thesen und Forschungsfragen anhand von Texten zu diskutieren, die sich zum Teil selbst nicht an dieser Theorie orientieren. Weiter sind Kenntnisse der Hochschulforschung und Organisationssoziologie hilfreich. Entsprechende Wissenslücken können aber bei besonderem Interesse am Thema durch Engagement kompensiert werden.
Grundsätzlich wird Interesse am Thema und Bereitschaft zur regelmäßigen Lektüre und Diskussion der Texte vorausgesetzt.
Kieserling, André, 2001: Bildung durch Wissenschaftskritik. Soziologische Deutungen der Universitätsidee in den sechziger Jahren, in: Stölting, Erhard/Schimank, Uwe (Hrsg.), Die Krise der Universitäten. Leviathan : Sonderheft 20. Wiesbaden: Westdt. Verl., 81–117.
Luhmann, Niklas, 1987: Zwischen Gesellschaft und Organisation. Zur Situation der Universitäten, in: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Köln [u.a.]: Westdt. Verl., 202–211.
Stichweh, Rudolf, 1994: System-Umwelt-Beziehungen europäischer Universitäten in historischer Perspektive, in: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 174–192.
Frequency | Weekday | Time | Format / Place | Period |
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Module | Course | Requirements | |
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30-M-Soz-M2a Soziologische Theorie a | Seminar 1 | Study requirement
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Seminar 2 | Study requirement
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- | Graded examination | Student information | |
30-M-Soz-M2b Soziologische Theorie b | Seminar 1 | Study requirement
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Seminar 2 | Study requirement
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- | Graded examination | Student information | |
30-M-Soz-M2c Soziologische Theorie c | Seminar 1 | Study requirement
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Student information |
Seminar 2 | Study requirement
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Student information | |
- | Graded examination | Student information |
The binding module descriptions contain further information, including specifications on the "types of assignments" students need to complete. In cases where a module description mentions more than one kind of assignment, the respective member of the teaching staff will decide which task(s) they assign the students.
Degree programme/academic programme | Validity | Variant | Subdivision | Status | Semester | LP | |
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Soziologie / Master | (Enrollment until SoSe 2012) | Modul 6.3; Modul 6.2; Modul 2.2; Modul 2.1; Modul 3.3 |
Zum Erwerb einer Einzelleistung ist bis Semesterende eine Hausarbeit zu verfassen.
Die aktive Teilnahme/Studienleistung wird durch die Verfassung von kleinen Kommentaren zu den Pflichttexten im Stud.IP erbracht.