Die Gabe – Theorienvergleich im Anschluss an Marcel Mauss´ens Klassiker
(Kay Junge)
Die Lektüre von Marcel Mauss´ Essay dürfte auf all jene, die bis dahin anderen mit aufrechter Freude Geschenke gemacht und umgekehrt entgegengenommen haben, einen leicht verstörenden Effekt haben. Dabei kommt der Anfang der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts publizierte, auf Literaturstudien fußende Aufsatz durchaus akademisch daher. Er ist, wie der Untertitel anzeigt, den Formen und Gründen des Tausches in archaischen Gesellschaften gewidmet. Mauss erhebt dabei den Anspruch den vor allem außerhäuslichen Tausch in vorrangig segmentär differenzierten Gesellschaften vom Neolithikum bis zur Ausdifferenzierung einer moderner Geldwirtschaft erfasst zu haben und begreift diesen als einen reziproken Tausch von Gaben, als wechselseitiges Schenken. Aber die Sache hat einen Dreh: Geschenke verpflichten und binde den Beschenkten; sie erniedrigen ihn, solange sie nicht erwidert werden und erhöhen umgekehrt den sozialen Status des Schenkenden. Es geht um Ehre und sozialen Status. Hier setzt Mauss an. Er nutzt seine Analysen darüber hinaus aber auch, um zeitgenössische soziale Arrangements des Schenkens und Feierns und verwandte Phänomen - von Almosen bis zum Versicherungswesen - zu beleuchten und schließlich auch um mindestens andeutungsweise Reformvorschläge zur Eindämmung des heute - so Mauss - tendenziell vorherrschenden, den Gabentausch verdrängenden kalten rücksichtslosen monetären Kalküls zu entwickeln.
Der Gabentausch dient Maus als paradigmatisches Beispiel und als Schlüssel zum Verständnis des sozialen Zusammenlebens. Er ist - so Mauss - durch drei Pflichten bestimmt: die Pflicht zu geben, die zu empfangen und die zu erwidern. Anders als Durkheim oder Weber wählt Mauss damit ein schon von sich aus komplexes, nämlich sequenziell organisiertes, eine soziale Beziehung etablierendes Arrangement zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung und sucht dabei eine soziologische Perspektive zu behaupten, die entgegen den Selbstdarstellungen und Selbstdarstellungszwängen der im do ut des involvierten Parteien, gerade auch deren latente Motive, sowie die darüber hinausgehenden latenten sozialen Funktionen des Schenken und Feierns heraus zu präparieren bemüht ist.
Im Ausgang von Mauss´ Text sollen in diesem Seminar eine Reihe der von ihm behandelten und auf dem Weg der Analogie berührten Phänomene erneut untersucht, die Belastbarkeit seiner Thesen überprüft und die verhandelten Sachen mindestens zum Teil auch im Spiegel alternativer, den für die Durkheim-Schule notorischen Verweis auf höhere Wesen entbehrlich machender Theorien beleuchtet werden.
Seminarplan:
18. April
Einleitung und Überblick
25. April
Treue und Dankbarkeit
Gerog Simmel, Exkurs über Treue und Dankbarkeit, in: ders.,Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, , Berlin: Dunker & Humblot 1908, S.438-447.
2. Mai
Gabentausch und Reziprozität
Marcel Mauss, Die Gabe, 1. Kapitel
9.Mai
Potlatch, Kula, Mana, Big Man
Marcel Mauss, Die Gabe, 2. Kapitel
Andrew Strathern, The Rope of Moka. Big-Men and Ceremonial Exchange in Mount Hagen, New Guinea, Cambridge: CUP 1971 (eventuell der Film zum Buch)
Rolf Ziegler, The Kula: Social Order, Barter, and Ceremonial Exchange, in: Michael Hechter et al. (Hrsg.), Social Institutions: their emergence, maintenance and effects, New York 1990, S. 141-168.
16. Mai
Macht der Dinge? Stipulatio, Wadium und Kerbholz. Gabentausch und Überbleibsel des Gabentausches im Altertum
Marcel Mauss, Die Gabe, 3. Kapitel
Kay Junge, Zepter und Kerbholz – Macht und Geld. Der Vertrag zu Gunsten Dritter und die Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: Thomas Schwinn et al. (eds.), Soziale Differenzierung. Handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion, Wiesbaden: VS 2011, S. 211-240.
23. Mai
Die Implikationen des Essays und sein historischer Kontext
Marcel Mauss, Die Gabe, 4. Kapitel
Mary Douglas, Einleitung, in: Marcel Mauss, Die Gabe
William E. Mitchell, The Defeat of Hierarchy: Gambling as Exchange in a Sepik Society, American Ethnologist, Vol. 15, No.4 (1988), S. 638-657.
Simon Harrison, Ritual as Intellectual Property, Man, 27 (2), 1992, S. 225-244.
30. Mai
Latenzprobleme des Schenkens? Beweislastverteilung und Höflichkeit
Pierre Bourdieu, Drei Studien kabylischer Ethnologie, in: ders., Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 9-136.
Pierre Bourdieu, Die Ökonomie der symbolischen Güter, in: Frank Adloff und Steffen Mau (Hrsg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt/M.: Campus 2005, S. 139-155.
Alain Caillé, Die doppelte Unbegreiflichkeit der reinen Gabe, in: Frank Adloff und Steffen Mau (Hrsg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt/M.: Campus 2005, S. 157-184.
Michael T. Taussig, The Secret of the Gift, in: ders., Defacement: public secrecy and the labor of the negative, Stanford, Cal.: Stanford U.P. 1999, S. 267-271.
6. Juni
(Lesewoche)
13. Juni
Höflichkeiten, Entschuldigungen und Beweislastzumutungen: Der bestätigende und der abhelfende Austausch
Erving Goffman, Relations in Public, New York: Basic Books 1971 (Kapitel 3 und 4).
Penelope Breown / Stephen C. Levinson, Politness. Some universals in language usage, Cambridge: CUP 1987.
Marion Owen, Apologies and Remedial Interchanges. A Study of Language Use in Social Interaction, Berlin / New York: Mouton Publishers 1983.
20. Juni
Empörung als Strategie der Reziprozitätsverweigerung
Raffael Di Tella / Ricardo Perez-Truglia / Andres Babino / Mariano Sigman, „Conveniently Upset: Avoiding Altruism by Distorting Beliefs about Others ´Atruism“, American Economic Review 105 (11), 2015, S. 3416-42.
27. Juni
Das passende persönliche Geschenk und der unveräußerliche Besitz
Eric Posner, Law and Social Norms, Cambridge, Mass.: Harvard U.P. 2000.
Annette B. Weiner, Inalienable Possessions: The Paradox of Keeping-While- Giving, Berkeley: University of California Press 1992.
4. Juli
Schaffung von Abhängigkeit durch Leistungen, die nicht erwidert werden können
Fredrik Barth, Political Leadership among the Swat Pathans, London 1959.
Peter M. Blau, Exchange and Power in Social Life, New York: Wiley 1964.
Michael Allen, Elders, Chiefs, and Big Men: Authority Legitimation and Political Evolution in Melanesia, American Ethnologist, Vol. 11, No. 1, 1984, S. 20-41.
11. Juli
Generationenbeziehungen und das Geschenk der Geburt
Nancy Jay, Throughout Your Generations Forever: Sacrifice, Religion and Paternity, Chicago: University of Chicago Press 1992.
Martin Shubik, Land, Love or Money: A Strategic Model of How to Glue the Generations together, Journal of Economic Behavior and Organization, 2 (1981), S. 359-385.
Nancy McDowell, Intergenerational Exchange in a Diachronic Context: A Melanesian Example, Anthropos,Bd. 85, Heft 4./6., 1990, S. 393-401.
Susan J. Rasmussen, Alms, Elders, and Ancestors: The Spirit of the Gift among the Tuareg, Ethnology, Vol. 39, No. 1, 2000, S. 15-38.
Patrick Heady, Fertility as a process of social exchange, Demographic Research, 17 (16), 2007, S. 465-493.
Bettina Hollstein, Reziprozität in Familienbeziehungen, in: Frank Adloff und Steffen Mau (Hrsg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt/M.: Campus 2005, S. 187-210
18. Juli
Blut spenden – Zum Problem der Motivverdrängung durch Vermarktung
Richard M. Titmuss, The Gift Relationship. From Human Blood to Social Policy New York: Pantheon 1971.
Kenneth Arrow, Gifts and Exchanges, Philosophy and Public Affairs I, no. 4, 1972, S. 343-362.
Samuel Bowles, The Moral Economy. Why Good Incentivesare no Substitute for good citizens, New Haven: Yale U.P. 2016.
Bruno S. Frey, Markt und Motivation. Wie ökonomische Anreize die (Arbeits-)Moral verdrängen, München 1995.
25. Juli
Geldentstehung, Gabentausch und die Konvertierbarkeit von Geldgeschenken
Katsuhito Iwai, Evolution of Money, in: Antonio Nicita / Ugo Pagano (Hrsg.), The Evolution of Economic Diversity, London: Routledge 2001, S. 396-431.
Viviana Zelizer, The Social Meaning of Money, New York: Basic Books 1994.
Joel Robbins (Hrsg.), Money and Modernity: State and Local Currencies in Melanesia, ASAO Monographs), Pittsburg: University of Pittsburgh Press 1999.
Marcel Mauss, Die Gabe: Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990.
Frank Adloff und Steffen Mau (Hrsg.), Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, Frankfurt/M.: Campus 2005.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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30-M22 Fachmodul Soziologische Theorie/ Geschichte der Soziologie I | 1. Vertiefendes Theorieseminar | Studienleistung
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Studieninformation |
2. Vertiefendes Theorieseminar | Studienleistung
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- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation | |
30-M31 Fachmodul Soziologische Theorie/ Geschichte der Soziologie II (erweitert) | Vertiefendes Theorieseminar 1 | Studienleistung
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Studieninformation |
Vertiefendes Theorieseminar 2 | Studienleistung
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Studieninformation | |
- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation | |
30-M4_ver1 Soziologische Theorie I | Vertiefendes Theorieseminar | Studienleistung
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Studieninformation |
- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation | |
30-M9 Soziologische Theorie II (Vertiefung) | Vertiefungsseminar zur soziologischen Theorie I | Studienleistung
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Studieninformation |
Vertiefungsseminar zur soziologischen Theorie II | Studienleistung
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Studieninformation | |
- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.