230480 Schreiben und Schweigen im Mittelalter (S) (SoSe 2007)

Für das Verstummen von Menschen kann es vielfältige Gründe geben: emotionales Überwältigtsein durch menschliche Liebe oder Gotteserfahrung, Entsetzen und Erschrecken, aber auch körperliche Verstümmelung, um nur wenige zu nennen. Dieses literaturwissenschaftliche Masterseminar richtet den Blick nicht nur auf solche Gründe für Schweigen, sondern auch darauf, was nach dem Verstummen geschieht: Die Verstummten geben unartikulierte Laute (Schreie) von sich, sie gestikulieren, suchen Heilung, und sie schreiben auf, was sie nicht (mehr) sagen können. Die biblische Geschichte vom verstummten Zacharias und der Mythos von Philomele, so wie er in Ovids Metamorphosen überliefert ist, zeigen ein Modell, wie nach dem Verlust der Sprache eine alternative Artikulationsmöglichkeit gefunden und zum Dialog nutzbar gemacht wird. Wie eng Schweigen und Schreiben miteinander verbunden sind, zeigen etwa die Kartäusermönche mit ihrem rigorosen Schweigegelübde: Die Kartausen wurden zu Hochburgen mittelalterlicher Schriftlichkeit, da sich das Fehlen des Sprechens offenbar ausgleichen ließ durch exzessives Schreiben, welches die Kartäuser im Anschluß an Cassiodor als ein "Predigen mit der Hand" verstanden. Außerdem fehlt in kaum einem Werk der religiösen Literatur eine schriftliche Anleitung zu "rechtem Schweigen".

Literaturhinweis:

Uwe Ruberg, Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender deutscher Literatur des Mittelalters, München 1978