230209 Realismus in vergleichender Perspektive (S) (SoSe 2012)

Der Realismus ist die letzte gemeineuropäische Epoche vor der Moderne, hat in seiner deutschen Variante, als seit langem als ‚provinziell‘ oder ‚nicht welthaltig‘ verschrien, allerdings nicht den besten Ruf. Die Folge: Fontane ist dem Feuilleton sakrosankt geworden, Storm fest in den Händen der Studienräte, Raabe zur Sache der Spezialisten geworden.
Anhand ausgewählter Texte soll die Berechtigung bzw. Gegenstandslosigkeit des Verdikts überprüft werden. Der Vergleich mit außerdeutschen Literaturen wird die Urteilsfindung erleichtern, weshalb die drei Autoren mit Texten von Flaubert, Zola und Tolstoi, ggf. auch kürzeren Beispielen aus dem englischen, spanischen oder italienischen Sprachraum konfrontiert werden.
Mit der kritischen Sichtung des Realismus ist stets auch die grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit gestellt: Wem kommt wann was realistisch vor (und was nicht – Kriegsschilderungen, Armut und Arbeitswelt, Frauenbilder, Sentimentalismus usw.)? Sind Konzepte wie Mimesis oder Widerspiegelung literaturtheoretisch angemessen? Bis zu welchem Grad lassen sich Nationalliteraturen und ihre Traditionen überhaupt vergleichen? Wie verhalten sich eigentlich Poetik/Theoriedebatte und die literarische Produktion zueinander? Weiterhin soll die Frage nach der Epochalisierung im Auge behalten werden: Wann beginnt und endet Realismus; was unterscheidet ihn vom Naturalismus u.ä.?

Literaturangaben

Als – natürlich zu verhandelnde – Lektüreauswahl ist zunächst gedacht an: Fontane, "Unterm Birnbaum" (oder andere Texte, aber bitte dtv-Ausgabe!); zwei Novellen von Storm; Raabe, "Das Odfeld" oder "Pfisters Mühle" (alles Reclam);
Flaubert, „Ein einfaches Herz“ (in "Drei Erzählungen", Reclam oder Insel-Tb) evtl. sogar "Madame Bovary"; Zola, "Bestie Mensch" oder "Therèse Raquin"; Tolstoi, "Der Tod des Iwan Iljitsch" (Reclam).