239153 "Renouveau catholique" - ein europäisches Phänomen? (S) (WiSe 2011/2012)

Inhalt, Kommentar

Am 21. Mai 1801 schreibt Heinrich von Kleist in einem Brief an Wilhelmine von Zenge:
"Nirgends fand ich mich aber tiefer in meinem Innersten gerührt, als in der katholischen Kirche, wo die größte, erhebenste Musik noch zu den anderen Künsten tritt, das Herz gewaltsam zu bewegen. Ach, Wilhelmine, unser Gottesdienst ist keiner. Er spricht nur zu dem kalten Verstande, aber zu allen Sinnen ein katholisches Fest. Mitten vor dem Altar, an seinen untersten Stufen, kniete jedesmal, ganz isoliert von den andern, ein gemeiner Mensch, das Haupt auf die höheren Stufen gebückt, betend mit Inbrunst. Ihn quälte kein Zweifel, er glaubt - Ich hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht mich neben ihn niederzuwerfen, und zu weinen - Ach, nur ein Tropfen Vergessenheit, und mit Wollust würde ich katholisch werden."
Diesen Wunsch verdankt der Protestant Kleist einer synästhetischen Erfahrung, die er an das Erleben einer katholischen Messe koppelt. Der inbrünstige Wunsch naiv glauben zu können, wird unmittelbar an eine theatralisch-performative Rezeption gekoppelt. Kleists Enthusiasmus gegenüber dem katholischen Kult ist für die Literatur des frühen 19. Jahrhunderts nichts ungewöhnliches. Zahlreiche Autoren der Romantik sahen in den Ritualen der katholischen Messe eine ins Leben gerufene Visualisierung ihrer ästhetischen Vorstellungen, so unter anderem Wackenroder, Novalis, E.T.A Hoffmann, Eichendorff und Brentano. Anderen sahen im ultramontanen Verständnis des Katholizismus die Möglichkeit zu einer einheitlichen und metaphysisch legitimierten Verfassung Europas, wie zum Beispiel Novalis mit seinem Aufsatz "Die Christenheit unter Europa" (1799) in welcher das christliche Mittelalter seine Verklärung als geistiges und politisches Vorbild erfährt. Während die Katholiken Eichendorff und Brentano vor allem versuchen, sich den sinnlichen Dimensionen der Messe, aber auch der Bedeutung der kirchlichen Hochfeste lyrisch anzunähern, führt die Begeisterung für den Katholizismus beim einstmals progressiven Friedrich Schlegel zur Konversion. Insofern lassen sich in der Poetik der Romantik erste Ansätze für eine ästhetische und kulturpolitische Neubewertung der katholischen Religion attestieren, die dem geplanten Seminar als Ausgangslage dienen soll und den monarchistisch gesonnenen Autor Chateaubriand auch zu seinem umfangreichen Essay "Le Génie du christianisme" (1802) motivierte. Trotz dieser nicht zu leugnenden antizipatorischen Rolle romantischer Dichtung wird den Schwerpunkt allerdings die Behandlung der eigentlichen Bewegung des "Renouveau catholique" bilden, die im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Gegengewicht zur Moderne, zur Säkularisierung, zum Materialismus aber auch zur Verbürgerlichung der Religion bilden wollte. Vorangetrieben wurde diese Rekatholisierung der Literatur vor allem durch Léon Bloy, der mit seiner Forderung nach einem Ideal der Armut mit Blick auf eine "imitatio Christi" nicht nur dem Bürgertum, sondern auch einer überbürokratisierten Klerikerkirche den Kampf ansagte. Darüber hinaus setzte sich Bloy auch kritisch mit dem Naturalismus Zolas, der Dominierung der französischen Sprache durch sogenannte Gemeinplätze und dem deutsch-französischen Krieg von 1870/1871 auseinander, den er vor allem als einen finalen Kampf mit dem 'protestantischen Erbfeind' verstand. Diese radikalen Ansichten flossen über in eine Sprache der Gewalt, der ätzenden Polemik und des Angriffs, deren genauere Analyse auch im Seminar geleistet werden soll. Vielleicht wird darüber hinaus auch die versteckte Modernität des Bloyschen Sprachgestus und der von ihm verwendeten Bilder deutlich, die Alexander Pschera dazu brachte, León Bloy mit dem Phänomen Nietzsche zu vergleichen. Neben einer eingehenden Beschäftigung mit Bloys Erzählungen und Essays, werden in diesem Seminar auch Texte von Georges Bernanos, Paul Claudel, Huysmans, Francois Mauriac und Villiers de L'Isle-Adam diskutiert. In einem zweiten Schritt soll dann der Wirkung des "Renouveau catholique" auf andere Dichter außerhalb Frankreichs nachgeforscht werden, was die Integration von so unterschiedlichen Autoren wie Hugo Ball, Heinrich Böll, Nicolás Gómez Dávila, T.S. Eliot, Gerard Manley Hopkins, Julien Green, Gertrud von Le Fort, Martin Mosebach, Konrad Weiss und Franz Werfel in das Seminargeschehen notwendig macht. Dieser komparatistische Blick kann jedoch nur gelingen, wenn sich für die unterschiedlichen literarischen "Katholizismen" Arbeitsgruppen bilden, die ihre Ergebnisse im Seminar vorstellen. Der Seminar-Start erfolgt allerdings über die gemeinsame Lektüre von Novalis "Die Christenheit oder Europa" (1799) und Martin Mosebachs Groß-Essay "Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind" (2007), da gerade Mosebach in seiner Ablehnung der heutigen nach-konziliären Messe und Liturgie ähnliche Argumente ins Feld führt wie Heinrich von Kleist, nämlich formal- und wirkungsästhetische, denen er wiederum die Möglichkeit zur Bedeutungsstiftung zugesteht. Kunst und Religion erfahren also eine Symbiose, deren verschiedenen literarischen Ausprägungen in der Veranstaltung nachgegangen werden soll. Die entscheidenden Texte (vor allem von Léon Bloy) werden in einem Reader kurz vor Semesterbeginn zur Verfügung gestellt. Falls sich genug Interessierte finden, ist auch eine Exkursion geplant, sei es nach Hannover zum Besuch einer vor-konziliären Messe "ad orientem" und auf lateinisch, oder in Form eines mehrtägigen Besuchs einer Zisterzienser-Abtei in der auch für Wanderungen ausgesprochen geeigneten und landschaftlich reizvollen Eifel. Interessenten mögen sich bitte rechtzeitig bei mir melden. Der Essay von Martin Mosebach sollte von allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern angeschafft werden. Er wird bereits in der vorlesungsfreien Zeit in der Universitätsbuchhandlung LUCE vorrätig sein.

Teilnahmevoraussetzungen, notwendige Vorkenntnisse

Bachelor in Literaturwissenschaft oder Germanistik;
Interesse an kulturhistorisch-komparatistischer Literaturwissenschaft;
Bereitschaft zur eigenständigen Erarbeitung und Präsentation von Themenfeldern

Literaturangaben

1) Karl-Heinz Bloching: Die Autoren des literarischen "renouveau catholique" Frankreichs: biographisch-bibliographische Skizzen, Bonn 1966.
2) Wolfgang Braungart (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrung der Jahrhundertwenden, Paderborn 1996, 3 Bände.
3) Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen 1997.
4) Richard Griffiths: Révolution à rebours. Le renouveau catholique dans la littérature en France de 1870 à 1914, Paris 1971.
5) Wilhelm Kühlmann/Roman Luckscheiter (Hgg.): Moderne und Antimoderne. Der Renouveau catholique und die deutsche Literatur. Beitrage des Heidelberger Colloquiums vom 12. bis 16. September 2006, Freiburg im Breisgau 2008.
6) Elke Lindhorst: Die Dialektik der Geistesgeschichte und Theologie in der modernen Literatur Frankreichs. Dichtung in der Tradition des renouveau catholique von 1890-1990, Würzburg 1990.
7) Caroline Mary: Zwillingskristall aus Kot und Diamant. Léon Bloy in Deutschland, Berlin 2009.
8) Martin Mosebach: "Was ist katholische Literatur?", in: ders.: Schöne Literatur. Essays, München 2006, S. 105-137. (Dieser Essay wird in der ersten Sitzung diskutiert. Er ist daher vorzubereiten!)
9) Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, München 2007.
10)Alexander Pschera: Léon Bloy. Pilger des Absoluten, Albersroda 2006.
11)Thomas Pittrof: "Literarischer Katholizismus als Forschungsaufgabe: Umrisse eines Forschungsprogramms", in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 48 (2007), S. 373-394.
12)Wolfgang Schieder (Hg.): Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993.
13)Torsten Voß: "Martin Mosebach: Die Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind", in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Kindlers Neues Literaturlexikon, 3. völlig neu bearbeitete Auflage, München 2009, Bd. 11, S. 525.

Lehrende

Termine ( Kalendersicht )

Rhythmus Tag Uhrzeit Format / Ort Zeitraum  
wöchentlich Mi 16-18 C5-141 10.10.2011-03.02.2012

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Fachzuordnungen

Studiengang/-angebot Gültigkeit Variante Untergliederung Status Sem. LP  
Europa Intensiv Vertiefungsveranstaltungen Wahlpflicht  
Literaturwissenschaft / Master (Einschreibung bis SoSe 2012) MaLit2; MaLit3; MaLit4d   3/7  
Literaturwissenschaft / Master (Einschreibung bis SoSe 2009) MaLit2; MaLit3   3/7  
Studieren ab 50    

aktive Teilnahme: Moderation einer Sitzung zu einem selbstständig aus
dem Seminarkontext ausgewählten Thema
benotete Einzelleistung: Hausarbeit (ca. 15 bis 20 Seiten) - Das Thema der Hausarbeit muss rechtzeitig in der Sprechstunde mit mir abgesprochen werden.

Kein E-Learningangebot vorhanden
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WS2011_239153@ekvv.uni-bielefeld.de
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Reichweite:
3 Studierende direkt per E-Mail erreichbar
Hinweise:
Weitere Hinweise zu den E-Mailverteilern
Letzte Änderung Grunddaten/Lehrende:
Freitag, 11. Dezember 2015 
Letzte Änderung Zeiten:
Freitag, 9. September 2011 
Letzte Änderung Räume:
Montag, 11. Juli 2011 
Art(en) / SWS
Seminar (S) / 2
Einrichtung
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft
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25801233