Die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre gehört zu den Grundlagen des modernen Staates. Der liberale Rechtsstaat macht gar seine Identität – bspw. in Abgrenzung zu totalitären Systemen – davon abhängig, wie weit er sich aus den „privaten“ Angelegenheiten seiner Bürger/innen heraushält. Dabei gilt die Faustformel, dass die Zurückhaltung des Staates umso größer sein muss, umso privater oder gar intimer der betroffene Lebensbereich sich darstellt. Daraus könnte geschlossen werden, dass der Bereich der Sexualität keiner staatlichen Regulierung zugänglich sein sollte, da er den intimen Kern privater Lebensgestaltung bildet. Dem steht einerseits die Rechtswirklichkeit gegenüber, in welcher der Staat – nicht zuletzt aus bevölkerungspolitischen Gründen – ganz erheblichen Einfluss auf die intime Lebensgestaltung seiner Bürger/innen nimmt. Andererseits ist Vorsicht geboten beim Ruf nach dem Rückzug des Staates: Auch im Bereich der Sexualität kann es zu schädigenden Handlungen kommen, welche rechtlich zu unterbinden sind.
Im Seminar soll der Frage nach der rechtlichen Regulierung von Sexualität nachgegangen werden: Welche Vorstellungen von „richtiger“ und devianter Sexualität liegen rechtlichen Diskursen zugrunde? Wie wird Sexualität und Intimität vom Recht beeinflusst, geprägt, geschützt? In welchen „intimen“ Bereichen sollte sich das Recht stärker engagieren, aus welchen zurückziehen?
Die konkreten Referatsthemen werden bei der Vorbesprechung am 07.04.2011 vergeben. Sie können aus den folgenden Themenbereichen ausgewählt bzw. entwickelt werden, wobei weitere Vorschläge willkommen sind:
Ehe und andere Lebensformen
Traditionell ist die Ehe die exklusive und privilegierte Lebensform, in der sexuelle Beziehungen stattfinden sollen. Dies geht einher mit merkwürdigen Annahmen über Rechtspflichten zum ehelichen Verkehr und zur ehelichen Treue, aber auch man-gelnder Bereitschaft, sexualisierte Gewalt in der Ehe wahrzunehmen und strafrechtlich zu verfolgen. Als Rechtsinstitut ist die Ehe in den meisten europäischen Ländern nur für heterosexuelle Paare zugänglich. Hintergrund sind bevölkerungs-politische Erwartungen, wonach die Ehe der Fortpflanzung und damit dem Fortbestand des Staates dient, aber auch ordnungspolitischen Vorstellungen. Bei ihrer rechtlichen Absicherung werden homosexuelle Partnerschaften konsequent diskriminiert („Abstandsgebot zur Ehe“).
Die Eheschließungsfreiheit als Menschenrecht meint also nur die Freiheit von dem Zwang, eine unerwünschte Ehe zu schließen, nicht die Freiheit, mit einer frei gewählten Person eine Ehe schließen zu können. Der Schutz der Eheschließungs-freiheit hat in letzter Zeit durch Kampagnen gegen Zwangsheiraten erhebliche Aufmerksamkeit erhalten. Die in diesem Zusammenhang erlassenen Regelungen im Zuwanderungsrecht und Strafrecht werfen jedoch viele Fragen auf und scheinen auch dem Zusammenleben verschiedener Kulturen nur begrenzt förderlich zu sein. Der Blick in die jüngste Rechtsgeschichte beugt Überlegenheitsgefühlen vor: Jahrzehntelang versuchte der deutsche Gesetzgeber, die Eltern nichtehelicher Kinder durch sorgerechtliche Regelungen zur Ehe zu zwingen. Und im Sozialrecht werden zusammenlebende Personen auch gegen ihren Willen aus Kostengründen zwangsweise zu „Bedarfsgemeinschaften“ zusammengefasst. Umgekehrt soll die unzweifelhaft freiwillige geschlossene Ehe als „Scheinehe“ nichtig sein, wenn sie dem Erwerb eines Aufenthaltsrechtes in Deutschland dient.
Sexuelle Devianzen
Wenn die (heterosexuelle, monogame, aus zwei Personen bestehende) Ehe die rechtlich erwünschte Form sexueller Beziehungen darstellt, werden andere Sexualitäten im Bereich des Devianten bzw. der Perversion verortet und vom Recht diskriminiert oder sogar bekämpft. Höchstrichterliche Entscheidungen zur Strafbarkeit männlicher Homosexualität, zur Sittenwidrigkeit von SM-Sex oder zum Inzestverbot geben Auskunft über die Sexualnormen in einer sich selbst als liberal verstehenden Gesellschaft. Dabei stehen größere Herausforderungen noch bevor: Homosexuelle Transsexuelle stürzen das Bundesverfassungsgericht in Gender Trouble und queer theory sowie polyamouröse Beziehungen starten den Frontalangriff auf die Ehe.
Die Regulierung der Prostitution
Prostitution scheint eine besondere, normstabilisierende Form der Abweichung zu sein. Dementsprechend reagierte auch das Recht: Die Einschätzung als unvermeid-bar, aber durchaus gefährlich führte über lange Zeit dazu, dass Sexarbeiter/innen sozialer Ächtung und rechtlichen Repressionen ausgesetzt waren, während Kunden, Zuhälter und Bordellbetreiber/innen unbehelligt blieben. Noch heute besteht in Europa keine Einigkeit über das „richtige“ Regelungsmodell. In Deutschland wollte der Gesetzgeber die Situation von Sexarbeiter/innen verbessern. Aus diesem guten Willen ist eine bis zur Willkür uneinheitliche Rechtslage entstanden, da in jedem Rechtsbereich – Strafrecht, Vertragsrecht, Gewerberecht, Baurecht, Steuerrecht – ein anderer Umgang mit Prostitution für angemessen gehalten wird.
Sexualität – Medien – Pornographie
Der rechtliche Umgang mit Sexualität beruht auf gesellschaftlichen Sexualnormen, die sich wiederum zu einem nicht unerheblichen Teil aus medial verbreiteten Bildern und Vorstellungen speisen. Dieser Zusammenhang wurde schon früh von feministischen Bewegungen in den Blick genommen. Mit dem Slogan „Pornographie ist die Theorie, Vergewaltigung die Praxis“ wurde ein umfassendes Pornographie-Verbot gefordert, das von anderen Feminist/innen ebenso vehement abgelehnt wurde. Bis heute ist die Rechtslage im Spannungsfeld zwischen Kunstfreiheit, Jugendschutz und dem verfassungsrechtlichen Gebot der Geschlechtergleichheit mehr als unklar. Schon die Bestimmung eines abgrenzbaren Pornographie-Begriffs stellt Befürwor-ter/innen wie Gegner/innen des Verbots vor erhebliche Probleme.
Sexuelle Selbstbestimmung und sexualisierte Gewalt
Catharina MacKinnon, eine der wichtigsten Befürworter/innen des Pornographie-Verbots, geht davon aus, dass Sexualität der wesentliche Schauplatz des hierarchischen Geschlechterverhältnisses ist: „Men fuck women – subject, verb, object.“ Angesichts dessen fällt es nicht leicht, sexuelle Selbstbestimmung als effektives Freiheitsrecht zu konzipieren. Auch beim Schutz der sexuellen Autonomie zeigen sich erhebliche Probleme: Die Änderung des Sexualstrafrechts in den 1990er Jahren hat dogmatisch tief greifende, in der Praxis aber nur relativ wirkende Veränderungen gebracht. Die Strafverfolgung von Sexualdelikten in Deutschland ist weiterhin von Sexualitätsmythen und Geschlechterstereotypen geprägt.
Themenbeispiele
Ehe und andere Lebensformen
• „Liebespflichten“: Besteht eine rechtliche oder moralische Pflicht zum ehelichen Geschlechtsverkehr und zur ehelichen Treue?
• Die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe: das hierarchische Geschlechterverhältnis in rechtshistorischer Betrachtung
• Geordnete Familie als Keimzelle des Staates: Lebensformenrecht und Bevölkerungspolitik
• Die Diskriminierung der eingetragenen Lebenspartnerschaft und das Abstandsgebot zur Ehe
• Perspektiven der Eheschließungsfreiheit im Kampf der Kulturen: Maßnahmen gegen Zwangsheiraten und Vorgehen gegen „Scheinehen“
• Perspektiven der Eheschließungsfreiheit: Zwangsvergemeinschaftung durch Bedarfsgemeinschaften, „Anreizwirkungen“ im Steuer- oder Sorgerecht
Sexuelle Devianzen
• Die Strafbarkeit der männlichen Homosexualität: kritische Lektüre einer Bundesverfassungsgerichtsentscheidung
• Gender Trouble beim Bundesverfassungsgericht: homosexuelle Transsexuelle und andere Herausforderungen
• Die Legitimität des Inzestverbotes
• Jenseits der Ehe: Polyamouröse Beziehungen und queer theory
• Frauenkriminalität und (deviante) Sexualität in kriminologischen Theorien und im modernen Hollywoodfilm
Die Regulierung der Prostitution
• Kasernierung, Repression, Generalverdacht: zur Regulierung von Prostitution im Kaiserreich
• Zwischen Legalisierung und Kriminalisierung: Regelungsmodelle zur Prostitution in Europa
• Einheit der Rechtsordnung und Regelung der Prostitution in Deutschland in verschiedenen Rechtsbereichen
• Der Staat als Zuhälter?: die Legalisierung der Prostitution und das Steuerrecht bzw. die Steuererhebungspraxis
Sexualität – Medien – Pornographie
• Pornographie aus verfassungsrechtlicher Perspektive: zwischen Kommunika-tionsfreiheiten und staatlichen Schutzaufträgen
• Sind die rechtlichen Regelungen zur Begrenzung der Verbreitung von Pornographie ausreichend?
• Rechtliche Grenzen sexualisierter Werbung
• Die Bedeutung des Jugendschutzes für Darstellungen von Sexualität in den Medien
Sexuelle Selbstbestimmung und sexualisierte Gewalt
• Das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung
• Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und seine Begrenzung durch die Rechte Anderer und staatliche Schutzpflichten
• „Besondere Erniedrigung“: Implikationen eines Rechtsbegriffes, dogmatisches Verständnis und kulturelle Auswirkungen
• Geschlechterstereotypen und Sexualitätsmythen in der Strafverfolgung von Sexualdelikten
• Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe und Kriegsverbrechen
mögliche Prüfungsleistungen:
Hausarbeit bzw. schriftlich ausgearbeitetes Seminarreferat nach § 28 II Nr. 3 StudO 2007 mit 5 LP
Seminarvortrag mit Erwerb einer Schlüsselqualifikation nach § 16 I StudO 2007
Frequency | Weekday | Time | Format / Place | Period | |
---|---|---|---|---|---|
one-time | Do | 18-19 | U8-207 | 07.04.2011 | Vorbesprechung |
one-time | Fr | 9-18 | U8-207 | 17.06.2011 | |
one-time | Sa | 9-18 | U8-207 | 18.06.2011 | |
one-time | So | 9-18 | U8-207 | 19.06.2011 |
Degree programme/academic programme | Validity | Variant | Subdivision | Status | Semester | LP | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Gender Studies / Master | (Enrollment until SoSe 2013) | Hauptmodul 3 | 3 | (bei Einzelleistung 3 LP zusätzlich) | |||
Rechtswissenschaft mit Abschluss 1. Prüfung (STUDPRO 2007) / Staatsprüfung | (Enrollment until SoSe 2009) | Schlüsselqualifikationen; Meth/Grund B; Grundlagenschein gr. | Wahlpflicht | 5. 6. 7. 8. | HS |