Bis heute wird Osteuropa sowohl wissenschaftlich als auch medial als ein Ort von Ausnahmezuständen und außergewöhnlicher Gewalt imaginiert: es wird als ein Raum nichtmoderner und nichtliberaler Ordnung begriffen, in dem rückständige, eingeschüchterte und atomisierte Menschen leben. Solch eine Tradition der Vorstellung von Osteuropa und insbesondere Russland ist eindeutig in dem totalitären Paradigma verwurzelt, das von US-Wissenschaftlern während des Kalten Krieges entwickelt und von der westlichen Literatur, Kunst und Filmen im kollektiven Bewusstsein verankert wurde. Als Ergebnis wurden die "guten" Demokratien mit "bösen" Diktaturen gegenübergestellt. Diese Forschung übersieht die Tatsache, dass im Staatssozialismus die Bürger*innen sich in autoritäre Ordnungen integrierten, indem sie Wege erfanden, sich mit dem Staat und der Partei auseinanderzusetzen sowie Handlungsräume für Selbstverwirklichung, Zugehörigkeit und Glück zu schaffen. In unserem Kurs werden wir die Idee eines allgegenwärtigen oder gar totalitären Staates dezentralisieren und das vereinfachte Modell eines untergeordneten "Homo Sovieticus" revidieren. Mit dem Fokus auf die Vermittlung fundierter Sachkenntnisse, Übungen der Quelleninterpretation und Auseinandersetzung mit Forschungsliteratur soll der Sozialismus als ‚way of life‘ interpretiert werden, der eine Alternative zur kapitalistischen Welt manifestierte und eine Art der ‘Normalität‘ für mehr als 400 Millionen Menschen im Ostblock darstellte. Exemplarisch wird es dabei um die Alltagserfahrungen und Medien, Lebensformen und Subkulturen, Arbeit und Freizeit, Ideologie und Konsum, Emotionen und Geschlechterrollen in öffentlichen und privaten Sphären gehen.
Der Grundkurs wird durch ein Tutorium begleitet, in dem konkrete Techniken der Quellenarbeit, kritische Lektüre der wissenschaftlichen Texte erlernt und ein Überblick der historiographischen Entwicklungen in der Geschichtswissenschaft verschafft werden sollen.
Die Prüfung sieht die Bearbeitung eines Forschungsthema (8-10 Seiten), einschließlich die Quelleninterpretation mit historiographischer/methodologischer Anordnung, vor.
Die Bereitschaft zur Lektüre englischsprachiger Texte wird vorausgesetzt.
Applebaum, Anne: Der Eiserne Vorhang. Die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956, München 2013.
Boškovska, Nada; Strobel, Angelika; Ursprung, Daniel (Hg.): “Entwickelter Sozialismus” in Osteuropa. Arbeit, Konsum und Öffentlichkeit, Berlin 2016.
Crowley, David; Reid, Susan (ed.), Pleasures in Socialism. Leisure and Luxury in the Eastern Bloc, Evanston, IL 2010.
Jarausch, Konrad; Siegrist, Hannes (Hg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, Frankfurt am Main 1997.
Yurchak, Alexei: Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2005.
Giustino C.M., Plum C.J., Vari A. (ed.), Socialist Escapes: Breaking Away from Ideology and Everyday Routine in Eastern Europe, 1945-1989, New York 2013.
Koleva, Daniela (ed.), Negotiating Normality. Everyday Lives in Socialist Institutions, New Brunswick, London 2012.
| Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum | |
|---|---|---|---|---|---|
| wöchentlich | Mi | 13-16 | ONLINE | 26.10.2020-12.02.2021 | Grundkurs Historische Lebenswelten |
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| Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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| 22-SU12G Geschichtswissenschaft und ihre Didaktik im Sachunterricht Geschichtswissenschaft und ihre Didaktik im Sachunterricht | Grundkurs Historische Lebenswelten | benotete Prüfungsleistung
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Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.