Seminarbeschreibung:
Ausgangspunkt der qualitativen Sozialforschung bilden die Sinnwelten sozialer Akteure. Soziale Akteure erschaffen interpretierend und handelnd im Kollektiv gesellschaftliche Lebenswelten. In diesen Lebenswelten kann man sich nur orientieren, wenn man deren Sinnverweise und –zusammenhänge versteht. Doch wie beobachtet man Verstehen? Woran erkennt man, dass jemand etwas verstanden hat? Gibt es überhaupt so etwas wie Verstehen – oder ist Verstehen eine „kommunikative Fiktion“? Das Verstehen von Sinnwelten jenseits des eigenen subjektiven Erlebens, das sog. Fremdverstehen, ist ein zentraler Begriff der qualitativen Sozialforschung. Dieses Verstehen ist notwendig immer auch kreativ, da man permanent Ausdrucksformen fremden Sinns deutend "umspielen" und variabel aneignen muss.
Die qualitative Sozialforschung hat eine Reihe von Verfahren entwickelt, mit denen man dem (eigensinnigen) Verstehen der Akteure auf die Spur kommen kann durch Interviewtechniken, Interpretationsverfahren u.a. Die Frage aber, ob man damit Verstehensprozesse tatsächlich erfasst, ist bis heute umstritten.
Wir werden diese Frage im Seminar aufgreifen anhand von Diary-Verfahren. Forschungstagebücher bieten einen weiteren interessanten Zugang zu subjektiven Verstehensprozessen von sozialen Akteuren, der bereits vielfältig in der soziologischen Forschung genutzt wurde.
Dennoch fristen Diary-Verfahren bis heute eher ein Schattendasein im Kanon der etablierten Methoden. Gleichzeitig sind Forschungstagebücher eine besondere Herausforderung, denn man ist in besonderem Maß mit dem Eigensinn und der Vielgestaltigkeit eines sozialen Alltages konfrontiert: Wie findet man da Muster? Wie kann man Tagebücher für eine Forschung nutzen, um z.B. Verstehensprozesse zu untersuchen? Nach welchen Regeln soll man dabei vorgehen? Was sind Vor- und Nachteile dieses Verfahrens?
Im Seminar beschäftigen wir uns zuerst kurz mit Formen von Forschungstagebüchern: Was gibt es da überhaupt für Varianten wie wurden die bisher eingesetzt.
Anschließend beginnen wir zunächst selbst Tagebucheinträge zu produzieren. Ausgangspunkt bilden dabei Momente des "Nicht-Verstehens". Die Teilnehmer*innen können dazu solche Sachverhalte aus ihrem Studium einbringen, die für sie schwer zu verstehen sind (Texte, Begriffe, Anforderungen usw.). Die Versuche diese Momente des Nicht-Verstehens zu bearbeiten bilden dann den Gegenstand der Tagebucheinträge.
In der zweiten Phase des Seminars beschäftigen wir uns dann hauptsächlich mit Schreibübungen, die uns dabei helfen sollen, gezielt unser eigenes Verstehen zu beobachten und zu reflektieren.
Dafür gibt es zwischendurch immer wieder kleine schreibpraktische und theoretische Anregungen. Dieser zweite Teil dient vor allem dem Zweck, praktische Erfahrungen im Schreiben von Forschungstagebüchern zu sammeln: Was gibt es da für Besonderheiten, Herausforderungen und pragmatische Lösungen?
In der dritten Phase des Seminars wechseln wir dann in die Perspektive von Forscher*innen, die Tagebücher als Daten nutzen möchten. Stellen Sie sich vor, einige der im Seminar produzierten „Verstehens-Tagebücher“ wären Ihnen in die Hände gefallen oder würden für Sie geschrieben – wie geht man damit um? Wie wertet man diese Texte aus? Wie kann man weiter gezielt bestimmte Daten erheben?
Abschließend werden wir unsere Erkenntnisse auf wenigen Seiten zusammenfassen.
Im Seminar wird keine Prüfung abgelegt, sondern es werden im Rahmen der Empirischen Praxis nur Studienleistungen erbracht.
Die Studienleistungen bestehen vor allem aus Schreibpraxis und einem kleinen Teil Lektürearbeit – es gibt also mehr zu schreiben, wenig zu lesen und nichts zu präsentieren o.ä.
Ein Großteil der Studienleistungen wird im Selbststudium erbracht. Diese Studienleistungen setzen sich aus einzelnen Teilleistungen zusammen und ergeben am Ende 4 Leistungspunkte.
Eine Besonderheit des Seminars ist der Fokus auf (nicht nur wissenschaftliches) Schreiben. Sie können dieses Seminar also auch gut dazu nutzen, Ihre Schreibkompetenzen mit Blick auf spätere Hausarbeiten, Abschlussarbeiten usw. weiterzuentwickeln!
Wie nebenbei bearbeiten wir dabei Ihre Verstehensprobleme im Soziologiestudium (oder vielleicht auch anderer Studiengänge)!
Literatur
Kunz, Maria (2018): Einführung in die Diary-Verfahren, Basel: Juventa.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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30-M10 Vertiefung Methoden II | Empirische Praxis | Studienleistung
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Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.