Seminarbeschreibung:
Soziale Praktiken sind stets durch verschiedene Grenzziehungen charakterisiert, die man z.B. an Übergängen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit, am Beginn oder Ende von Ritualen beobachten kann. Mit dem Beginn eines Studiums überschreitet man ebenfalls verschiedene soziale Schwellen. Eine neue Lebensphase beginnt, neue Bekanntschaften werden geknüpft u.a.
Eine besondere Schwelle im Studium markieren Verstehensprozesse. Im Rahmen einer Vorlesung zur Theorie der Soziologie oder einer Einführung in die Statistik kann man auf Unverständliches stoßen. Dabei kann es immer wieder passieren, dass sich plötzlich der „Knoten“ löst und man mit einem Mal das große Ganze zu verstehen glaubt. Solche Momente werden auch als „Aha-Effekte“ bezeichnet.
Aha-Effekte markieren eine Schwelle des Verstehens von Sachverhalten – während man auf dem Weg ist, neue Einsichten zu gewinnen, zu lernen und jemand Anderes zu werden.
Je nachdem, wie man Emotionen in sozialen Praktiken verortet, hat man es bei Aha-Effekten mit Schwellengefühlen oder Gefühlsschwellen zu tun.
Aha-Effekte als Schwellengefühle sind Begleitphänomene, Nebensächlichkeiten eines anderen und wichtigeren Geschehens. So könnte man dann davon sprechen, dass jemand rational etwas nachvollzieht und dann mit einem Aha-Erlebnis belohnt wird – Emotionen als eine Art Leckerli.
Aha-Effekte als Gefühlschwellen wären hingegen Emotionen, mit denen soziale Grenzziehungen überhaupt erst zu sozialen Gewissheiten werden. Dies würde z.B. bedeuten, dass man erst mit dem Gefühl der Peinlichkeit oder des Lampenfiebers auf eine soziale Grenzziehung „stößt“, sie wird dadurch gewissermaßen erst wirksam. Und dann erst setzt das rationale Verstehen ein.
Während die meisten soziologischen Klassiker die erste Variante bevorzugen, konzentriert sich eine phänomenologisch interessierte Soziologie für die zweite Variante. Denn nur dann, wenn soziale Grenzziehungen in der Wahrnehmung und den Emotionen der Akteure verankert sind, können Akteure auf soziale Grenzen „stoßen“, ohne davon zu Wissen oder Theorien über soziale Schwellen zu haben. Und genau das ist es, was man im Alltag beobachten kann: In den meisten Fällen orientieren sich Akteure in sozialen Praktiken habituell an Grenzziehungen (zwischen Milieus, Geschmäckern, Privatsphäre und Öffentlichkeit usw.), ohne dass dies explizit gemacht oder diskutiert wird.
Wir werden im Seminar der Frage nachgehen, wie man Aha-Effekte aus der Perspektive einer qualitativen Sozialforschung untersuchen kann. Dazu greifen wir auf eine Methode zurück, die bisher ein Schattendasein führt in der Soziologie: Das Qualitative Experiment.
Das Qualitative Experiment als ein eigenständiges Verfahren neben quantitativ durchgeführten Experimenten wurde seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt, besonders in der Gestalt- und Entwicklungspsychologie.
Bei Qualitativen Experimenten geht es darum, ein soziales Phänomen zu untersuchen, indem man in es eingreift, es verändert. Ähnlichkeiten hat das qualitative Experiment mit dem Ex-post-facto-Experiment von Stuart F. Chapin (1947), bei dem ein bereits abgelaufener Prozess retrospektiv als Experiment betrachtet wird und mit dem Konzept des Realexperiments (Groß, Hoffmann-Riem & Krohn 2005), das durch komplexe Eingriffe gekennzeichnet ist, um einen sozialen oder ökologischen Prozess neuartig zu gestalten. Auch mit der auf Kurt Lewin (1948) zurückgehenden Aktionsforschung, bei der konkrete Probleme aus der Praxis gemeinsam mit den Betroffenen untersucht und mit Interventionen verändert werden, besitzt das qualitative Experiment die Gemeinsamkeit des Eingriffs.
Wir werden uns im Seminar zunächst mit einem klassischen qualitativen Experiment nach Karl Bühler beschäftigen – aus den Beobachtungen dieses Experiments entstammt der deutsche Ausdruck „Aha-Erlebnis“!
Anschließend beschäftigen wir uns mit Beispielen für Unverständliches aus Ihrem Studienalltag. Diese Beispiele überführen wir in ein experimentelles Setting, das zunächst am Modell Karl Bühlers orientiert ist. Dann führen wir diese Experimente selbst durch, in dem Versuch, „Aha-Effekte“ zu erzeugen. Dabei eignen wir uns Grundlagen des qualitativen Experiments an und modifizieren das Experiment auf der Grundlage unserer Testdurchläufe.
Das Ziel ist es, am Ende der Vorlesungszeit in Eigenregie ein solches qualitatives Experiment durchzuführen mit „echten“ Teilnehmer*innen. Dabei soll erforscht werden, wie Aha-Erlebnisse mit den Schwellen eines Soziologiestudiums verknüpft sind.
Die Studienleistung setzt sich aus Lektürearbeit, Teilnahme an Experimenten, Beiträgen zu „unverständlichen“ Studieninhalten aus dem eigenen Studium u.a. zusammen. Wie nebenbei können wir dabei Verständnisprobleme Ihres Studiums mit bearbeiten!
Literatur
Kleining, Gerhard (1986): Das qualitative Experiment. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,38, 724-750.
Vollmers, Burkhard (1992): Kreatives Experimentieren. Die Methodik von Jean Piaget, den Gestaltpsychologen und der Würzburger Schule. Wiesbaden: Deutscher Universitats Verlag.
Chapin, Stuart F. (1947): Experimental designs in sociological research. New York: Harper & Brothers.
Groß, Matthias; Hoffmann-Riem, Holger & Krohn, Wolfgang (2005): Realexperimente. Ökologische Gestaltungsprozesse in der Wissensgesellschaft. Bielefeld: Transcript.
Lewin, Kurt (1948): Resolving social conflicts: Selected papers on group dynamics. New York: Harper.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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30-M10 Vertiefung Methoden II | Empirische Praxis | Studienleistung
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Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.