230305 Phänomenologie zwischen Ästhetik und Poetik (S) (SoSe 2022)

Inhalt, Kommentar

Ist die Landschaft, die Sie bewusst-visuell wahrnehmen wirklich da? Existiert sie auch noch außerhalb Ihrer Wahrnehmung bzw. wenn Sie Ihren Blick von ihr abwenden? Das sind interessante Fragen, die immer wieder die Grenzbereiche zwischen Philosophie und Ästhetik berühren und dementsprechend eine umfassende Diskussion erfahren haben, so auch in der phänomenologischen Philosophie und ihrer Rezeption in den Geisteswissenschaften.
Ursprünglich strebte die Phänomenologie eine Rückkehr zum Konkreten an und stellt damit ein Gegenmodell sowohl zum Psychologismus als auch zum wissenschaftsoptimistischen Positivismus auf. Indem sie – gemäß ihrer eigenen Diktion „zu den Sachen selbst“ – auf unsere unmittelbare Erfahrung zurückgriff, konnte sie mehr oder weniger ein Fundament für grundlegende Erkenntnisse bieten. Sie stelle sich nämlich als nichts weniger dar, als eine Wissenschaft vom menschlichen Bewusstsein. Ihre Wurzeln in der idealistischen Transzendentalphilosophie (Kant, Fichte) sind also kaum zu leugnen. Das Bewusstsein wurde als die eigentliche Tiefenstruktur des Denkens und des Wahrnehmens (Husserl) begriffen, denn mit der Wahrnehmung der Welt und ihrer Phänomene setzt das Bewusstsein diese Welt.
Das heißt, die Phänomenologie, wie sie ihr Begründer Husserl versteht, behauptet einerseits eine der Erkenntnis zugängliche Welt und stellt andererseits die menschliche Subjektivität, über die das Erkennen abläuft, in den Vordergrund. Somit ist die Welt eben das, was ich sehe bzw. intendiere! Insofern ist das Subjekt nicht wirklich Teil dieser Welt, da es diese – qua Wahrnehmung – erst entstehen lässt. Das war angesichts der objektivierenden Wissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein revolutionärer Gedanke, welcher Philosophie, Kunst und Literatur des frühen 20. Jahrhunderts gleichermaßen beeinflusste.
Nach einer kurzen Auseinandersetzung mit grundlegenden Texten Husserls über „Phantasie und Bildbewusstsein“ bzw. seiner Selbstdefinition der Phänomenologie wird deren Nachwirken, vor allem als Wahrnehmungsphänomenologie und Bildphänomenologie, in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Ansätzen (Ontologie, russischer Formalismus, Rezeptionsästhetik etc.) und speziell in ihrer Bedeutung für die Literaturwissenschaft nachvollzogen. So könnten besonders Arbeiten von Martin Heidegger, Moritz Geiger, Roman Ingarden, Jean-Paul Sartre, Maurice Merleau-Ponty, Emanuel Levinas, Alfred Schütz, Ludwig Landgrebe, Emil Staiger, M.J.T. Mitchell, Hans Belting, Lambert Wiesing, Wolfgang Iser und Hermann Schmitz im Mittelpunkt der Seminardiskussion stehen.
In einem zweiten Schritt wird dann zu überprüfen sein, inwieweit sich über die Verfahren fiktionaler Weltentwürfe in der modernen Erzählliteratur das Anliegen der Phänomenologie zumindest illustrieren ließe. Denn: Die ‚Welt’ eines Romans ist nicht eine ojektiv gegebene Wirklichkeit, sondern eine Realität, die von einem individuellen Subjekt generiert wird, das Korrelat seines Bewusstseins. Es wird also darum gehen, wie Autor:innen (u.a. António Lobo Antunes, Jürgen Becker, M. Blecher, Italo Calvino, Peter Handke, Franz Kafka, Alain Robbe-Grillet, Nathalie Sarraute, Gertrude Stein, Robert Walser etc.) die Wahrnehmung von Objekten, Räumen, Landschaften und Zeiten erleben und sie damit setzen und gestalten bzw. diese Setzung von Welt gestalten.
Vielleicht verdeutlicht fiktionale Literatur damit etwas, was wir selbst alltäglich betreiben, wenn wir Welt wahrnehmen bzw. intendieren und diese damit eben auch setzen. Phänomenologie ist damit also keine Methode der Interpretation, sondern höchstens die Verdeutlichung eines Prozesses. Dass sich bei dieser fast schon immanenten Konzentration auf die „Sachen selbst“ und die Art und Weise ihrer Wahrnehmung eine Reduktion inhaltlicher, intentionaler oder ideologischer Aspekte von Literatur und Kunst ergeben könnte, wäre ein zusätzliche Diskussionspunkt der Lehrveranstaltung. Denn nicht Autoren:innen als biographisch fassbare Personen sind dabei entscheidend, sondern ihr jeweiliges Bewusstsein bzw. der quasi weltkonstituierende Akt ihrer Wahrnehmung.

Literaturangaben

Literaturhinweise:
1) Andreas Becke: Der Weg der Phänomenologie – Husserl, Heidegger, Hamburg 1999.
2) Terry Eagleton: „Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptiontheorie“, in: ders.: Einführung in die Literaturtheorie, Stutgart 2012, fünfte Auflage, S. 17-53.
3) Ferdinand Fellmann: Phänomenologie zur Einführung, Hamburg 2009, zweite Auflage.
4) Moritz Geiger: „Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses”, in: Jb. für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. I, 2 (1913), S. 567-684.
5) Ders.: „Vom Dilettantismus im künstlerischen Erleben”, in: ders.: Die Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertästhetik. Gesammelte, aus dem Nachlaß ergänzte Schriften zur Ästhetik, hg. von Klaus Berger und Wolfhart Henckmann, München 1976, S. 136-177.
6) Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I, mit einer Einführung hg. von Klaus Held, Stuttgart 1985.
7) Ders.: Phantasie und Bildbewusstsein. Herausgegeben von Eduard Marbach, Hamburg 2006.
8) Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968.
9) Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1994, vierte Auflage.
10) Carmina Peter: Literatur im Kontext phänomenologischer Wahrnehmungstheorie. M. Blechers Poetik des Empfindens, Berlin/Boston 2016.
11) Manfred Smuda: Der Gegenstand in der bildenden Kunst und Literatur. Typologische Untersuchungen zur Theorie des ästhetischen Gegenstands, München 1979.
12) Jørgen Sneis: Phänomenologie und Textinterpretation. Studien zur Theoriegeschichte und Methodik der Literaturwissenschaft, Berlin/Boston 2018.
13) Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1979, zweite Auflage.

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