Der Erste Weltkrieg stellt als erste Manifestation eines mit modernen Vernichtungswaffen geführten Massenkrieges immer noch die entscheidende Zensur zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar. Nach Ansicht mancher Historiker leitete er sogar mit seiner Destruktivität und all ihren Folgen einen zweiten Dreißigjährigen Krieg ein. Es verwundert daher nicht, dass sich auch die Künste in vielerlei Hinsicht mit diesem Wechsel und all seinen Erfahrungen auseinandergesetzt haben, vor allem hinsichtlich einer Vermengung des Kriegserlebnisses mit den veränderten Wahrnehmungsmöglichkeiten der Moderne. Das wirkte sich auch auf die Geschlechterimaginationen innerhalb der Literatur aus. So funktionierte die Gender-Codierung des Offiziers oder des Soldaten in der Vorkriegszeit hauptsächlich über Inszenierung und Performanz und gründete sich auf eine Ästhetik der Distinktion in den jeweiligen Texten, aber auch in lebensweltlichen Kontexten. Die Offiziers- und Soldatenfiguren bei Autoren wie J.M.R. Lenz, Alfred de Vigny, Stendhal, Tolstoi, Fontane oder Schnitzler waren hierfür charakteristisch. Der totale Massenkrieg relativiert jedoch derlei Differenzierungsprozesse und das nicht nur durch den vielbeschworenen Mythos von der Frontkämpfergemeinschaft. Das neue Potential an Gewalt und Schrecken nivelliert vielmehr die altbekannten Wahrheiten und gibt zugleich der Literatur auch innovative Möglichkeiten der Gestaltung, vor allem dann, wenn der Krieg als ein Projekt der Imagination verstanden wird. Der Erste Weltkrieg mit seinen neuen Schrecken bietet sich gegenüber einem solchen Unterfangen als Matrix an und findet deshalb auch ebenso viele literarische Verarbeitungsoptionen wie die Figur des Soldaten selbst, der diese Schrecken erlebt oder an ihnen teilnimmt. Wenn auch die herkömmlichen Geschlechtermodelle innerhalb der Armee sich nicht mehr über die traditionellen Bildarsenale konstruieren lassen, haben dennoch Autoren wie Ernst Jünger, Rudolf Binding, Gabriele D'Annunzio oder in kritischer Hinsicht Georg Kaiser für solche Veränderungen eine Lösung parat, um ihre Geschlechterprogrammatiken vor dem Hintergrund der Kriegserfahrung neu zu gestalten. Sie artikuliert sich im "Gendering of space". Das Seminar untersucht diese imaginativen Verfahren einer geschlechtlich durchzogenen Aufladung von kulturellen Räumen nicht aus Opportunismus gegenüber dem zurzeit boomenden "Spatial turn" innerhalb der Kulturwissenschaften oder dem Recycling einer Präsenzästhetik, die sich eben an Räumlichkeit und nicht an der permament entschwindenden Zeit festklammert. Wichtiger erscheint dagegen eine von den Autoren selbst betriebene Kompensationsstrategie, die sich wie folgt der Vernstaltung voranstellen lässt: Aufgrund des Bedeutungsverlustes des einzelnen Mannes im totalen Krieg, muss letzterer selbst eine maskuline Aufladung erfahren. Der vom Krieg heimgesuchte Raum, das Schlachtfeld und die Situation des Kampfes müssen quasi gegendert werden. Die durch den Massenkrieg und seine Autoren bewirkte Expansion der Geschlechterkategorie von der einzelnen kriegerischen Figur auf einen gesamten Raum, die maskuline Aufladung der Atmosphäre, zusätzlich noch verbunden mit einer Ethik des Aushaltens oder Standhaltens, verbindet Identitätsproblematiken mit einer Krise der Darstellung und der Aufrechterhaltung von Geschlechterkonstruktionen durch deren massive Erweiterung von der Person in den Raum. Um diese Operationen sowohl stilistisch als auch gendertheoretisch nachzuzeichnen sollen im Seminar Texte gelesen und diskutiert werden von Ernst Jünger (Schwerpunkt des Seminars), Walter Flex, Rudolf Binding, Siegfried Loraine Sassoon, Gabriele D'Annunzio, F.T. Marinetti, Alexander Lernet-Holenia, Georg Kaiser und Maurice Blanchot, aber auch experimentell-avantgardistische Lyrik von Guillaume Apollinaire, August Stramm und Ernst Jandl, um nach sprachlichen Ausdrucksmitteln der transgressiven Bedeutung des Krieges zu suchen. Filmbeispiele von Pierre Boutron, Stanley Kubrick und Sam Peckingpah werden das Programm abrunden, um die formal-ästhetischen, diskursiven und typologischen Verfahrensweisen für die Gender-Codierung von Krieg, Gewalt, Krieger und Schlachtfeld genauer bestimmen und auswerten zu können. Um einen Kriterienkatalog zu den Merkmalen und der Situation des Soldaten während des Ersten Weltkriegs und darüber hinaus zu erschließen, wird das Seminar eingeleitet durch die Lektüre des Kapitels "Der Krieger" aus Ernst Hanischs Buch "Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts", Köln/Bonn/Wien, S. 17-125. Dieses Kapitel ist bereits für die erste Sitzung vorzubereiten. Sämtliche Texte werden fotokopiert in einem Reader vorliegen, der gegen Ende der vorlesungsfreien Zeit beim Veranstalter erworben werden muss.
1) Der erfolgreiche Besuch der fachlichen Basis (Fachportal und Basismodule)
2) Interesse an der Diskussion kulturtheoretischer und gender-theoretischer Texte, sowie an komparatistischer Arbeit
3) Bereitschaft zur mündlichen Mitarbeit und zur Kurzpräsentation
eines Textes/einer Position im Plenum
1) Waltraud Amberger: Männer, Krieger, Abenteurer. Der Entwurf des 'soldatischen Mannes' in Kriegsromanen über den Ersten und Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 1981, dritte Auflage.
2) Ursula Breymayer, Bernd Ulrich, Karin Wieland (Hgg.): Willensmenschen. Über deutsche Offiziere, Frankfurt am Main 1999.
3) Ernst Hanisch: Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Köln/Bonn/Wien 2005 (Das Kapitel "Der Krieger").
4) Helmuth Kiesel: "Ernst Jünger im Ersten Weltkrieg. Übersicht und Dokumentation", in: Ernst Jünger: Kriegstagebuch. 1914-1918. Hrsg. von Helmuth Kiesel, Stuttgart 2010, S. 596-647.
5) Hermann Korte: Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Themas, Bonn 1981.
6) Martin Kutz: Deutsche Soldaten. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2006.
7) Manfred Maengel: Das Wissen des Kriegers oder: Der Magische Operateur. Krieg und Technik im Frühwerk von Ernst Jünger, Berlin 2005.
8) Steffen Martus: Ernst Jünger, Stuttgart/Weimar 2001.
9) Volker Mergenthaler: "Versuch ein Dekameron des Unterstands zu schreiben". Zum Problem narrativer Kriegsbegegnung in den frühen Prosatexten Ernst Jüngers, Heidelberg 2001.
10) Georg Philipp Rehage: "Wo sind Worte für das Erleben". Die lyrische Darstellung des Ersten Weltkriegs in der französischen und deutschen Avantgarde (G. Apollinaire, J. Cocteau, A. Stramm, W. Klemm), Heidelberg 2003.
11) Michael Rutschky: "Krieger", in: Merkur 2 (2011), S. 99-108.
12) René Schilling: "Kriegshelden". Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813-1945, Paderborn/München/Wien/
Zürich 2002.
Frequency | Weekday | Time | Format / Place | Period | |
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weekly | Mi | 14-16 | C01-204 | 04.04.-15.07.2011 |
Degree programme/academic programme | Validity | Variant | Subdivision | Status | Semester | LP | |
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Gender Studies / Master | (Enrollment until SoSe 2013) | Hauptmodul 1; Hauptmodul 1.2 | 3 | (bei Einzelleistung 3 LP zusätzlich) | |||
Germanistik / Bachelor | (Enrollment until SoSe 2011) | Kern- und Nebenfach | BaGerP2L | 2/5 | |||
Germanistik / Master of Education | (Enrollment until SoSe 2014) | BaGerP2L | 2/5 | ||||
Germanistik (GHR) / Master of Education | (Enrollment until SoSe 2014) | BaGerP2L | 2/5 | ||||
Literaturwissenschaft / Bachelor | (Enrollment until SoSe 2011) | Nebenfach | BaLitP1; BaLitP4 | 2/4 |
1) Für den Erwerb einer aktiven Teilnahme (2 LP) ist neben der regelmäßigen Teilnahme, der Textlektüre und der aktiven Beteiligung am Unterrichtsgespräch ein Kurzreferat zu einem selbst gewählten Text oder einer Forschungsposition obligatorisch.
2) Für den Erwerb einer benoteten Einzelleistung (5 LP bzw. 4 LP) ist neben der regelmäßigen Teilnahme, der Textlektüre und der aktiven Beteiligung am Unterrichtsgespräch eine Hausarbeit (ca. 10 bis 15 Seiten) zu einem selbst gewählten Thema obligatorisch.