400027 "Zum Gesundheitsbegriff in Medizin und Gesundheitswissenschaften" (S) (WiSe 2019/2020)

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Prof. Dr. Alexander Krämer/ Michael Medzech
Zum Gesundheitsbegriff in Medizin und Gesundheitswissenschaften:

Harte Indikatoren für den gesundheitlichen Zustand von Bevölkerungen sind Mortalität und Lebenserwartung in einer Gesellschaft. Weltweit lässt sich in letzter Zeit eine Zunahme der Lebenserwartung des Menschen beobachten, wobei große regionale Unterschiede zwischen Ländern mit hohem und niedrigem Einkommen bestehen (high- versus low-income countries). Zusätzlich ist die Lebenserwartung abhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht (hohe versus untere Schicht). In diesem Zusammenhang wird der theoretische Diskurs beherrscht vom Paradigma oder Konstrukt der „sozialen Ungleichheit“, welches für die modernen Gesundheitswissenschaften prägend ist.
Dabei wird der Gesundheits- (bzw. Krankheitsbegriff) vor allem deskriptiv oder phänomenologisch verwendet. Insgesamt bestehen aber erhebliche Theoriedefizite hinsichtlich der Auffassung und des Verständnisses der Rolle und Funktion von „Gesundheit“ und der Dynamik des Gesundheitsbegriffs. Der Gesundheit kommt in modernen Gesellschaften eine große subjektive Bedeutung zu, wenn man zugrunde legt, dass ihre eigene Gesundheit und die ihrer Familienangehörigen für die meisten Menschen als prioritär angesehen werden. Dies kann bis zur Rolle von Gesundheit als Fetisch reichen („Healthismus“), wenn die Bedeutung von Gesundheit für das Leben überhöht weil die Gesundheit alle anderen Bereiche des Lebens dominierend angesehen wird.
Dem entgegen steht eine dem ökonomische Primat unterzuordnende Gesundheit. Hier verkommt Gesundheit zur Ware. Dafür stellt die Sehnsucht nach Selbstoptimierung ein modernes Korrelat dar. Hintergrund ist der Zwang in einer rein kapitalistisch verfassten Gesellschaft als Individuum gegenüber anderen bestehen zu können, oder auch als z.B. europäische Gesellschaft gegenüber den USA und China kompetitiv zu sein.
Auf Bevölkerungsebene setzt eine solche darwinistische Sichtweise die Konzepte der Biopolitik fort, welche in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene pervertiert wurden. Auch wenn diese Art von Reduktionismus glücklicherweise nicht mehr das Problem ist, lohnt es sich zum besseren theoretischen Verständnis des Gesundheitsbegriffs unseres Erachtens, 1. die Evolution dieses Begriffs seit der Antike an ausgewählten Beispielen aufzuzeigen, und 2. nach möglichen reduktionistischen Tendenzen in modernen bürokratisch und technokratisch verfassten Gesellschaften Ausschau zu halten.
Anders gesagt geht es dabei auch um einen Gesundheitsbegriff, der seine Macht dadurch entfaltet, dass mit seiner Hilfe die Steuerung (und Manipulation) von Bevölkerungen erst ermöglicht wird. In den Dienst solcher Manipulationen sollten Prävention und Gesundheitsförderung – Grundkonstrukte moderner Gesundheitswissenschaften oder Public Health – nicht gestellt werden, ebenso wie technizistische Fehlentwicklungen zu vermeiden sind.
Außer der Betrachtung von methodischen bzw. wissenschaftstheoretischen Unterschieden beim Gesundheits- (und Krankheitsbegriff) bei den verschiedenen ausgewählten Autoren soll ein weiterer sich durch die Veranstaltung ziehender roter Faden darin bestehen, dass die theoretische Verortung dieses Begriffs bei diesen betrachteten Autoren bzw. Denkern unter einer Global Public Health-Perspektive fruchtbar gemacht werden soll. D.h. der Gesundheitsbegriff wird beleuchtet hinsichtlich der vergleichenden Betrachtung von Krankheitslasten in verschiedenen Ländern, Kontinenten und Gesellschaften (Global Burden of Disease-Studie), der Rolle von Gesundheit bei globalen Migrationsbewegungen (inter-, trans- und ggf. hyperkulturelle Sichtweise) und von Auswirkungen des globalen Klimawandels auf die Gesundheit des Einzelnen und betroffener Populationen.

Seminarplan:

7. Oktober 2019
1. Veranstaltung Einführung: Salutogenese, Stress und Selbstwirksamkeit

14. Oktober 2019
2. Veranstaltung Philosophische Therapeutik und Pharmakologie bei Galen

21. Oktober 2019
3. Veranstaltung Die Verbindung von Leib und Seele: Das Operationsfeld des Ärztesohns Aristoteles
(Referat möglich)

28. Oktober 2019
4. Veranstaltung Theologisch-philosophische Einsicht in die Heilkräfte der Natur bei Hildegard von Bingen (Referat möglich)

4. November 2019
5. Veranstaltung Paracelsus (Theophrastus Bombast) und der (philosophische) Kampf gegen die Quacksalber seiner Zeit und die Lehre vom Gesamtzusammenhang
(Referat möglich)

11. November 2019
6. Veranstaltung Sigmund Freud und das Ich und das Es und die Therapie der Seele
(Referat möglich)

18. November 2019
7. Veranstaltung Medard Boss und Heidegger – Seinsfrage und medizinisches Denken
(Referat möglich)

25. November 2019
8. Veranstaltung Ludwik Fleck und der ärztliche Blick und zur Frage der Grundlagen der medizinischen Erkenntnis
(Referat möglich)

2. Dezember 2019
9. Veranstaltung Ludwik Fleck Über den Begriff der Bakteriologie und zur Frage der labormedizinischen Analytik
(Referat möglich)

9. Dezember 2019
10. Veranstaltung Georges Canguilhem – Zur Kritik der Normierung und Mechanisierung des organischen Lebens
(Referat möglich)

16. Dezember 2019
11. Veranstaltung Michel Foucault und die Geburt der modernen Medizin
(Referat möglich)

6. Januar 2020
12. Veranstaltung Gilles Deleuze und die Einsicht in das Rhizom

13. Januar 2020
13. Veranstaltung Dirk Baecker: Die überwachte Gesundheit
(Referat möglich)

20. Januar 2020
14. Veranstaltung Vortrag von Prof. Dr. Dr. Holger Zaborowski zum heutigen Pflege- und Gesundheitsverständnis und anschließende Diskussion oder Debatte (Genauer Vortragstitel wird noch bekannt gegeben)

27. Januar 2020
15. Veranstaltung Zum Gesundheitsbegriff in Medizin und Gesundheitswissenschaften – abschließende Diskussion

Bibliography

Literatur:
Aristoteles: Über die Seele, Philosophische Schriften, hrsg. v. Horst Seidl, Bd. VI, Hamburg: Meiner 1995, Buch II, B, S. 28ff (412a ff.).
Baecker, Dirk: 4.0 oder die Lücke die der Rechner lässt, Leipzig: Merve 2018.
Canguilhem, Georges: Le normal et le pathologique, 12. Aufl., Paris: PUF 2013 (orig. 1966).
Deleuze, Gilles, Rhizom, Übers. v. Dagmar Berger et al., Berlin: Merve1977.
Foucault, Michel: „Médecin, juges et sorciers au XVIIe siècle“ in: Ders., Dits et écrits I. 1954-1975, Hrsg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Paris: Gallimard 2001, S. 781-794.
Fleck, Ludwik: Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hrsg. v. Sylwia Werner u. Claus Zittel, Berlin: Suhrkamp 2011.
Freud, Sigmund: Das Ich und das Es(1923), Gesammelte Werke, Köln: Anaconda 2014.
Hankinson, Robert J. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Galen, Cambridge: Cambridge University Press 2008.
Heidegger, Martin: Zollikoner Seminare, GA 89, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, hrsg. v. Peter Trawny, Frankfurt am Main: Klostermann 2018.
Sudhoff, Karl (Hrsg.): Theophrastu von Hohenheim, genannt Paracelsus. Sämtliche Werke, 1 Abt: Medizinische, naturwissenschaftliche und philosophische Schriften. München: Barth 1922-1933.
Von Bingen, Hildegard: Heilsame Schöpfung – Die natürliche Wirkkraft der Dinge. Physica, Werke Bd. V, hrsg. v. Ortrun Riha, Freiburg: Beuroner Kunstverlag 2012.
-- : Ursprung und Behandlung der Krankheiten. Causae Et Curae, Werke Bd. II, hrsg. v. Ortrun Riha, 2. Aufl., Freiburg: Beuroner Kunstverlag 2012.

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Frequency Weekday Time Format / Place Period  
weekly Mo 18-20 X-E0-236 07.10.2019-31.01.2020
not on: 12/23/19 / 12/30/19

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40-M27 Ergänzungsmodul Gesundheitskommunikation 1 Seminar 2 Study requirement
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40-MPH-9 Ergänzungsmodul Gesundheitswissenschaften Seminar 2 Study requirement
Student information

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Thursday, June 6, 2019 
Last update times:
Wednesday, October 2, 2019 
Last update rooms:
Wednesday, October 2, 2019 
Type(s) / SWS (hours per week per semester)
seminar (S) / 2
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School of Public Health
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