300125 Mikrostrukturen der Demokratisierung (S) (SoSe 2013)

Inhalt, Kommentar

Während vor dem 21. Jahrhundert politische Anthropologie aufgrund der Reduzierung alles Politischen auf eine rationale, instrumentelle und institutionelle Ebene als eine rigide Fachrichtung galt, demonstriert der heutige Anstieg von politischen Themen, wie Demokratie, Staatsangehörigkeit, Nationalismus, Nationalstaat, Krieg und Frieden etc., ihre dynamische Seite. Das hat vor allem mit der Tatsache zu tun, dass die überwiegende Zahl der Wissenschaftler sich von den engen Sichtweisen der klassischen politischen Anthropologie und Politikwissenschaften distanzieren konnte und bemerkte, dass Politik mehr als Entscheidungen von Staatsregierungen oder instrumentelles Parteikalkül ist. Sie ist vielmehr „a semiotic excess of transgression, of occasional violence, of humour and entertainment, love and fear“ (Spencer, 2007: 15). Dank dieser erweiterten Definition sind lokale Politiken und ihre Verknüpfung mit globalen Prozessen plötzlich ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt. Anthropologische Forschungen, die früher das Thema der Demokratie und Demokratisierung weitgehend als „westlich importierte Konzepte“ vernachlässigten (vgl. Spencer 1997, 2007; Michelutti 2007), begannen spätestens ab dem Jahre 2000, sich vermehrt für lokale Prozesse von Demokratisierung in den post-kolonialen Regionen zu interessieren. Dieser neue Forschungstrend hat hauptsächlich zwei markante Charakteristika: (1.) Er grenzt sich von den klassischen Theorien der Demokratie und Demokratisierung ab, die für die Einführung demokratischer Institutionen entweder ökonomische Modernisierung (Lipset 1960), eine homogene gesellschaftliche Struktur (Dahl 1983) oder eine herausgebildete Zivilgesellschaft (Diamond 1994) voraussetzen. (2.) Im Gegensatz zu makroorientierten Forschungen stehen keine formalen Institutionen im Mittelpunkt der Analysen, sondern Praktiken und Ideen lokaler Akteure (s. dazu z. B. die Ansätze „vernacular democracy“ (Michelutti 2007, 2008); „performing democracy“ (Spencer 2007); „local democracy“ (Gellner & Hachhethu 2008; Pfaff-Czarnecka 2005, 2008; Paley 2001, 2002)). Diese neuen Forschungsperspektiven erkennen, dass Demokratie und Demokratisierung unendlich miteinander verwobene Prozesse sind, die viele Variationen haben können und die immer in einen lokalen Kontext eingebettet sind. Das bedeutet gleichzeitig, dass Demokratie niemals als eine abgeschlossene und lineare politische Form betrachtet werden kann.
Das Seminar „Mikrostrukturen der Demokratisierung“ führt in die anthropologischen Perspektiven der Demokratisierung ein. Das bedeutet gleichzeitig, dass es mit keiner Vordefinition der Demokratie beginnt, sondern durch die Auseinandersetzung von relevanter Literatur darauf fokussiert, wie das Konzept auf der lokalen Ebene aufgegriffen, gedeutet, und angeeignet wird. Im Fokus der Veranstaltung stehen neben den neusten Ansätzen der Demokratisierungsforschung auch die scheinbar konflikthaften Verhältnisse zwischen Gewalt und Demokratie, zwischen Islam und Demokratie sowie zwischen Emotion und Demokratie. Mit der näheren Auseinandersetzung von Emotionen in politischer Kommunikation wird der Ansatz betont, dass Politik niemals als rein Rationales betrachtet werden kann, denn politische Mobilisierung entlang unterschiedlicher Ideen bedeutet auch die emotionale Mobilisierung der Massen. In Verbindung mit Demokratisierung werden auch die Konzepte von Staatsbürgerschaft, Menschenrechten, ‚environmentalism’, ‚developmentalism’, Kolonialismus, ‚governance’, Widerstand, Partizipation und ‚advocacy’ kritisch reflektiert. Ein weiteres relevantes und rezentes Thema ist, nachzufragen, welche Rolle die modernen Informationstechnologien in den heutigen globalen Demokratisierungsprozesse einnehmen, die eventuell die Disseminationsvorgänge von bestimmten Ideen, aber auch weltweite Mobilisierung und Solidarisierung beschleunigen oder eben hemmen (siehe dazu die derzeitigen weltweiten sozialen Bewegungen, wie „Occupy“ oder „Arab Spring“). Die Lektüren werden sich auf unterschiedliche Regionen der Welt konzentrieren, wobei Südasien besondere Beachtung geschenkt wird.

Literatur:

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Paley, Julia (2008): Participatory Democracy, Transparency, and Good Governance in Ecuador: Why Have Social Movement Organizations at All? In: Julia Paley (Hg.): Democracy. Anthropological approaches. 1. Aufl. Santa Fe, NM: School for Advanced Research Press (School for Advanced Research advanced seminar series), S. 167–192.
Paley, Julia (Hg.) (2008): Democracy. Anthropological approaches. School for Advanced Research; Advanced Seminar "Towards an Anthropology of Democracy". 1. Aufl. Santa Fe, NM: School for Advanced Research Press (School for Advanced Research advanced seminar series).
Pieke, F.N. (1995): Witnessing the 1989 Chinese People's Movement. In: Nordstron, C. & Robben, A. (1995): Fieldwork Under Fire. California: University of California Press.
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Spencer, Jonathan (2007): Anthropology, politics and the state. Democracy and violence in South Asia. Cambridge: Cambridge University Press.

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Pädagogik / Erziehungswissenschaft / Diplom (Einschreibung bis SoSe 2008) H.S.2; H.S.3   scheinfähig  
Politische Kommunikation / Master (Einschreibung bis SoSe 2013) 3.1 Wahl 3 (bei Einzelleistung 2 LP zusätzlich)  
Soziologie / Master (Einschreibung bis SoSe 2012) Modul 4.2   3 (bei Einzelleistung 3 LP zusätzlich)  

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