230404 Erinnerungen an die Zukunft: Die Moderne und ihr Zeitregime (V) (SoSe 2024)

Inhalt, Kommentar

Ausgangspunkt der Vorlesung ist die häufig kommentierte Beobachtung, dass Zukunftsaussichten in der Gegenwart allgemein zu einer gewissen Skepsis tendieren. Das bedeutet nicht, dass die Zukunft in Abrede stünde, aber nicht zuletzt in Bezug auf den Klimawandel scheint sie sich als eine Entwicklung darzustellen, die die Lebensbedingungen, wie wir sie kennen, eher gefährden als verbessern. Worum es bei der aktuellen Frage nach der Zukunft geht, hat nicht nur mit Vorwegnahmen des Künftigen zu tun, die naturgemäß immer ungewiss waren, sondern insbesondere mit den Voraussetzungen seiner Erwartbarkeit. Angesichts der Zweifel gegenüber der Zukünftigkeit scheint sich jedoch die Gegenwart zu bekräftigen. Wenngleich die Bestimmung der Gegenwart immer ein schwieriges Unterfangen ist, so scheint diese sich angesichts der heutigen Zurückhaltung bezüglich des Kommenden zugleich aufzuwerten und auszuweisen. Denn nicht wenige kultur- und geschichtswissenschaftliche Forschungen verstehen den Wandel der Zeitwahrnehmung als Signum eines kulturhistorischen Umbruchs, der sich durch die Erschöpfung der Zukunftsausrichtung kennzeichnet, welche die Moderne wesentlich als ein Zeitalter ausmachte. François Hartog etwa spricht davon, dass das futuristische „Regime der Historizität“ der Moderne durch ein gegenwärtiges Regime des Präsentismus abgelöst würde. Als Merkmal der Gegenwart kann jedenfalls die Erkenntnis gelten, dass sich die Moderne darin zu erkennen gibt, dass sie die Zeitwahrnehmung zur Grundlage von Kultur und Gesellschaft gemacht hat, insofern als für sie das menschliche Sein (nicht nur dieses) einem zeitlichen Fortschrittsprozess unterworfen ist.
Die Vorlesung lädt zu einer kritischen Reflexion über die Moderne als eine umfassende Kultur zeitlicher Prozesshaftigkeit ein. Damit steht die Historizität insbesondere des menschlichen Seins auf dem Spiel, jedoch auch die Fortschrittsinterpretation des Zeitprozesses. Das grenzt die vehemente Fortschrittskritik nicht aus, die immer mit der Moderne einherging. Im analytischen Fokus steht jedoch die Futurität, für die die Moderne stets stand, und in der die historische Prozessualität ihren Ausdruck findet. Sie soll auf der Grundlage exemplarischer Texte diskutiert werden, ohne dass hierbei eine Geschichte der Zukunft formuliert würde. Dabei wird nicht nur der Fortschritt als moderne Leitidee der Kritik unterworfen. Insbesondere richtet sich der Blick auch auf die Erschöpfung der Zeit als Prozess historischer Transformation.

Literaturangaben

Lektüreempfehlung:
Hartog, François (2003): Régimes d'historicité: Présentisme et expériences du temps. Paris : Seuil /
Hartog, François (2015): Regimes of Historicity: Presentism and Experiences of Time. New York, NY: Columbia University Press

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