300217 Neuro- und Verhaltenswissenschaftliche Gerechtigkeitsforschung (S) (SoSe 2014)

Für lange Zeit wurden Fragen der Gerechtigkeit ausschließlich als normative Probleme verstanden und wurden deshalb vorwiegend in der Philosophie bearbeitet. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat sich jedoch eine empirische Gerechtigkeitsforschung in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften etabliert. Sie fragt danach, (1) welche Vorstellungen über soziale Gerechtigkeit in den Institutionen einer Gesellschaft sichtbar werden, (2) wie und wann in einer Gesellschaft über Fragen der Gerechtigkeit diskutiert wird, (3) welche Vorstellungen die Menschen über Gerechtigkeit haben und warum sie spezifische Sichtweisen auf die Gerechtigkeit entwickeln und (4) welche konkreten Verhaltensweisen sich mit bestimmten Gerechtigkeitsvorstellungen verbinden. Die Bearbeitung dieser vier Fragestellungen geschah bisher vor allem in der Soziologie und der Psychologie auf der Grundlage der in diesen Disziplinen verwendeten empirischen Forschungsmethodik. In den letzten 15 Jahren beschäftigen sich nicht nur Ökonomen im Rahmen der „Behavioral Economics“ mit der Erforschung der Ursachen und Folgen individueller Gerechtigkeitsvorstellungen, die empirische Gerechtigkeitsforschung wird zunehmend auch durch naturwissenschaftliche Disziplinen ergänzt. Insbesondere im Bereich der Neurowissenschaften und der (Verhaltens-)Biologie widmet man sich in den letzten Jahren der Erforschung eines „sense of justice“. Dabei erweitert diese Forschung den bisherigen Fokus auf menschliche Einstellungen um Studien an Primaten und anderen höheren Lebewesen.
In diesem Seminar erfolgt zunächst eine Einführung in die bisherige empirische Gerechtigkeitsforschung. Danach werden neuere Forschungsansätze und ergebnisse aus der Verhaltensökonomie, Biologie und den Neurowissenschaften vorgestellt. Ziel ist es, zu überprüfen, inwieweit derartige Forschung neue und vor allem hilfreiche Erkenntnisse für die soziologische Gerechtigkeitsanalyse erbringen können.