300098 „…alles als infam zu empfinden, was das Bestehende ausmacht“ (Leo Löwenthal) – Kritische Theorie und Emanzipation (Vtr) (WiSe 2011/2012)

Inhalt, Kommentar

Einladungstext:

Kritische Theorie ist ein unablösbares Moment der Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt. Vor diesem Hintergrund begreift sie die gegenwärtige Gesellschaft nicht allein in ihrem Funktionieren, sondern ebensosehr in ihrer historischen Dimension, unter der Perspektive ihrer Veränderbarkeit. Kritische Theorie konfrontiert die heutige Organisation der Gesellschaft mit der in dieser Gesellschaft selbst gelegenen Möglichkeit zum Besseren. Diesen Widerspruch bringt sie zu Bewusstsein, bringt zu Bewusstsein, wie sehr die gegenwärtige Gesellschaft aus sich heraus auf der einen Seite bloß warenförmigen Reichtum, auf der anderen Seite Not und Unterdrückung, Zerstörung von Mensch und Natur produziert – wie sehr also die Gesellschaft, in der kapitalistische Produktionsweise herrscht, sich selbst, ihrem eigenen Anspruch widerspricht. „Indem (die kritischen Subjekte) die gegenwärtige Wirtschaftsweise und die gesamte auf ihr begründete Kultur als Produkt menschlicher Arbeit erkennen, als die Organisation, die sich die Menschheit in dieser Epoche gegeben hat und zu der sie fähig war, identifizieren sie sich selbst mit diesem Ganzen und begreifen es als Willen und Vernunft; es ist ihre eigene Welt. Zugleich erfahren sie, daß die Gesellschaft außermenschlichen Naturprozessen, bloßen Mechanismen zu vergleichen ist, weil die auf Kampf und Unterdrückung beruhenden Kulturformen keine Zeugnisse eines einheitlichen selbstbewußten Willens sind; diese Welt ist nicht die ihre, sondern die des Kapitals“ (Max Horkheimer).
Seit ihren Anfängen in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts ist die kritische Theorie ein unzeitgemäßes Unternehmen, bringt sie doch gegen das falsche Einverständnis ihrer Zeitgenossen das zum Ausdruck, was an der Zeit ist. Einzig kraft des negativen Denkens, kraft der „rücksichtslosen Kritik alles Bestehenden“ (Karl Marx) kann kritische Theorie einer immer noch naturwüchsigen, immer noch nach fremden und feindlichen Zwecken eingerichteten Gesellschaft standhalten, sich ihrem Sog und Konformitätsdruck widersetzen, um den Gedanken an eine vernünftige und gerechte Gesellschaft, zuletzt den eigenen Glücksanspruch zu behaupten. Ziel kritischer Theorie, und darin besteht ihr praktischer Eingriff, ist es Leben und Denken im bewussten Widerspruch zu organisieren. Kurz: „Weder sich von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen“ (Theodor W. Adorno).

FREITAG 11.11.2011 – 14.00h bis 16.00h

Eröffnungsvortrag
WAS IST KRITISCHE THEORIE? (Alex Demirović)

Im Vortrag wird das Selbstverständnis von kritischer Theorie umrissen. Diese kann nicht als Theorie einzelner Personen verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um ein Projekt, das tief in der bürgerlichen Gesellschaft verankert ist und an dessen Entwicklung viele Menschen seit vielen Jahrzehnten beteiligt sind. Entsprechend den historischen Veränderungen und gesellschaftlichen Herausforderungen verändert sich auch das Verständnis von kritischer Theorie. Es geht kritischer Theorie um Aufklärung und Emanzipation, um Mündigkeit, Einrichtung einer vernünftigen Welt, Weltfrieden, Demokratie. Seit Marx ist kritische Theorie nicht mehr naiv, sondern stellt die Frage danach, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich solche Ziele verwirklichen lassen. Horkheimer und Adorno haben danach gefragt, wieweit die Tradition der kritischen Theorie nicht naiv im Verhältnis zu sich selbst ist. Zu wenig kritisch gegenüber der eigenen Praxis, kann auch kritische Theorie autoritär werden. So stellt sich heute, angesichts einer neuen Phase kapitalistischer Vergesellschaftung die Frage nach einem erneuerten Befreiungstheorie.

FREITAG 11.11.2011 – 16.00h bis 18.00h

VERDINGLICHUNG (Rüdiger Dannemann)

Im theoretischen Zentrum Georg Lukács’ 1923 veröffentlichten „Geschichte und Klassenbewußtsein“ steht die durch das Warenverhältnis allgegenwärtig gewordene Verdinglichung. Hinter dem Warentausch verschwinden die Beziehungen zwischen den Personen und erscheinen als streng rationelle, geschlossene Verhältnisse von Dingen. So kann Lukács schließlich festhalten, dass im modernen Kapitalismus die Individuen einzig noch als teilnahmslose Beobachter eines ihnen scheinbar fremden Geschehens dastehen. Damit nicht genug, ist zuletzt die gesamte Gesellschaft eine Funktion des Warenverkehrs. In einer sehr grundlegenden Weise stehen die gesellschaftskritischen Analysen der frühen kritischen Theorie Max Horkheimers, Theodor W. Adornos und anderer auf den Schultern der „Studien über marxistische Dialektik“, ja scheinen ohne den großen Wurf des Jahres 1923 kaum denkbar. Jürgen Habermas indes gelang es, dies - wie zuletzt das gesamte marxistische Erbe der kritischen Theorie - respektvoll zu tilgen. Jedoch kehrt die Verdinglichung als verdrängter, unverarbeiteter Brocken aus den Untiefen vergangen geglaubter Zeiten wieder. So haben unlängst Rahel Jaeggi sowohl als auch Axel Honneth den durchaus mutigen Versuch unternommen, die Überlegungen Georg Lukács zu reformulieren. Insbesondere Honneth aber wendet die Verdinglichung anerkennungstheoretisch und bringt die Verdinglichungskritik weiter um ihren politökonomischen Stachel.

Im Vortrag soll zunächst die Verdinglichungskritik Georg Lukács dargestellt
werden. Im Anschluss wird versucht, die oft verleugnete Bezugnahme Horkheimers und zumal Adornos sichtbar zu machen. Schließlich werden die Anschlüsse Honneths und Jaeggis ebenso zur Sprache kommen wie Möglichkeiten einer polit-ökonomisch informierten Verdinglichungskritik.

SAMSTAG 12.11.2011 10.00h – 12.00h

ANTISEMITISMUS (Heinz Gess)

Der Antisemitismus markiert die „Grenzen des Aufklärung“, so der Untertitel des von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno unter Mitwirkung Leo Löwenthals gemeinsam verfassten Abschnittes „Elemente des Antisemitismus“. Spätestens seit den frühen 1940er Jahren steht die Antisemitismuskritik auch im Zentrum der Bemühungen der kritischen Theorie. Eine wesentliche Einsicht ist dabei, dass die antisemitische Verhaltensweise gerade keine bloß vorurteilsbasierte ist. Damit gehen Horkheimer und Adorno deutlich über konventionelle Erklärungsansätze hinaus. Kritische Theorie versucht den Antisemitismus gesellschaftstheoretisch aus einem gescheiterten Zivilisationsprozess heraus zu begreifen. Vor diesem Hintergrund geht es ihr schließlich sowohl um die historische Entstehung des Antisemitismus, seine Grundlagen im Lebensprozess einer Gesellschaft, das heißt in der Ökonomie, als auch um die Verfasstheit der Subjekte dieser Gesellschaft.

Im Vortrag wird es einerseits um die Antisemitismuskritik des exilierten Instituts für Sozialforschung gehen. Zudem soll versucht werden, die Überlegungen Horkheimers und anderer von anderen Erklärungsansätzen abzugrenzen. Zuletzt wird es freilich um die Aktualität einer kritischen Theorie über den Antisemitismus, gerade auch vor dem Hintergrund des Islamismus gehen.

SAMSTAG 12.11.2011 12.00h – 14.00h

KULTURINDUSTRIE (Isabelle Klasen)

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno entwickelten den Begriff der Kulturindustrie am Modell der „verwalteten Welt“, des Spätkapitalismus der 40er und 50er Jahre, welcher samt der kulturellen Erzeugnisse durch die Destruktivität des kapitalistischen Verwertungsmechanismus und die Herrschaft des universalen Tauschprinzips geprägt war. Alles Individuelle sei hierdurch in Schemata gezwungen und die Wirklichkeit werde mit Identität und Konformismus geschlagen. In den Produkten der Kulturindustrie sahen Horkheimer und Adorno diese Identität besonders zwingend zum Ausdruck kommen, auch und gerade durch deren scheinbare Nonkonformität und Pluralität. Kulturindustrie ziele auf das, was zunächst einmal nicht identisch sei und was, insbesondere für Adorno, die Kunst dagegen bewahre: die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen, welche sie neutralisiere.

Im Vortrag soll der Begriff der Kulturindustrie im Gegensatz zur Kunst dargestellt werden. Überdies soll es um die Aktualität der Überlegungen Horkheimers und Adornos gehen. Es läßt sich nämlich fragen, ob heute am Begriff der Kulturindustrie noch festgehalten werden kann, da die Kulturindustrie mittlerweile ihren eigenen, einstmals kritischen Begriff geschluckt zu haben scheint.

SAMSTAG 12.11.2011 15.00h – 17.00h

KRITIK DER POLITISCHEN ÖKONOMIE (Dirk Braunstein)
Bis heute ist die Einschätzung verbreitet, dass der Rückgriff auf Karl Marx – und zumal auf dessen Kritik der politischen Ökonomie – in den Schriften der Frankfurter Schule ein Relikt aus bald überwundenen Stadien seiner Theorieentwicklung darstelle. Offensichtlich gab es eine große Distanz zum Fortschrittsoptimismus und erst recht zum Parteikonformismus marxistisch inspirierter Theoretiker wie etwa Georg Lukacs. Jedoch zieht sich eine produktive Auseinandersetzung mit wesentlichen Bestandteilen des Marx'schen Hauptwerkes durch das gesamte Schaffen von Horkheimer und Adorno. Anhand zahlreicher Textdokumente lässt sich diese These belegen. Sie zeigt, dass im Zentrum von Adornos kritischer Theorie der Gesellschaft eine Kritik nicht nur der politischen Ökonomie steht, sondern eine von Ökonomie überhaupt.

Der Vortrag soll das Beziehungsgeflecht von Marxscher Ökonomiekritik und der klassischen kritischen Theorie beleuchten und fragen, welche Aktualität diesen Inhalten zukommt.

SAMSTAG 12.11.2011 17.00h – 19.00h

FEMINISMUS (Barbara Umrath)

Das Denken Adornos, Horkheimers und Co. hat bis heute einen starken Einfluss auf gesellschaftskritische Theorien. „Geschlecht“ war für die frühe Kritische Theorie jedoch keine zentrale Analysekategorie, sondern findet eher beiläufig und an verschiedenen Stellen immer wieder Erwähnung. Dabei finden sich gleichermaßen Passagen, in denen die Unterdrückung von Frauen denunziert wird wie solche, in denen die bürgerliche Familie und die mit dieser gegebene geschlechtliche Arbeitsteilung in einem verklärten Licht erscheinen. Dies brachte der Kritischen Theorie von feministischer Seite den Vorwurf ein, sie wiederhole die patriarchale Unterdrückung. Entsprechend spielt die Kritische Theorie heutzutage in der Frauen- und Geschlechterforschung kaum eine Rolle.

Im Vortrag sollen die Äußerungen der Kritischen Theorie zu Geschlecht, Subjekt und Körper im Kontext ihrer herrschaftskritischen Grundüberlegungen betrachtet werden. Dabei wird deutlich werden, dass sich die feministischen Einwände nur bedingt bestätigen lassen. Es wird sich sogar zeigen, dass feministische Kritik von der frühen Kritischen Theorie wichtige Impulse aufnehmen kann.

SAMSTAG 12.11.2011 ab 20.00h

KRITISCHE THEORIE UND STAATSSOZIALIMUS
(Podiumsdiskussion mit Christoph Jünke, Robert Steigerwald und Magnus Klaue )

"Gesellschaftstheorie hat es mit den geschichtlichen Alternativen zu tun". (Herbert Marcuse)

"Das Unheil liegt in den Verhältnissen, welche die Menschen zur Ohnmacht verdammen und doch von ihnen zu ändern wären." (Adorno)

Das Diktum, dass sich die Kritische Theorie in der Negation der bürgerlichen Gesellschaft erschöpft, ihr also eine Utopie von Befreiung, erst recht eine greifbare Vorstellung der Organisation einer befreiten Gesellschaft fehle, geht auf zahlreiche ihrer Kritiker zurück. In vorderster Linie standen dabei diejenigen Marxisten, die ihre politische Heimat und Zukunft in den untergegangenen Staaten des sogenannten realen Sozialismus sahen. Nun hat sich dieser Bezug historisch quasi selbstregulierend aufgelöst - die Themen indes bleiben relevant.
Zur Debatte steht die Erneuerung einer Philosophie der Praxis ebenso wie die Utopie einer Befreiung von Individuum und Gesellschaft.

Lehrende

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Fachzuordnungen

Studiengang/-angebot Gültigkeit Variante Untergliederung Status Sem. LP  
Politikwissenschaft / Bachelor (Einschreibung bis SoSe 2011) Kern- und Nebenfach   2  
Sozialwissenschaften / Bachelor (Einschreibung bis SoSe 2011) Kern- und Nebenfach   2  
Soziologie / Bachelor (Einschreibung bis SoSe 2011) Kern- und Nebenfach   2  

Als aktive Teilnahme/Studienleistung wird ein Tagungsbericht verfasst. Ansprechpartner ist Dirk Lehmann.

Kein E-Learningangebot vorhanden
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Letzte Änderung Grunddaten/Lehrende:
Freitag, 11. Dezember 2015 
Letzte Änderung Zeiten:
Mittwoch, 21. September 2011 
Letzte Änderung Räume:
Mittwoch, 21. September 2011 
Art(en) / SWS
Vortrag (Vtr) /
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