Anfang der 2000er Jahre müssen einige US-amerikanische Unternehmen (Enron, WorldCom, AIG) ihre Quartalsberichte korrigieren und erhebliche Defizite deklarieren. Es kommt zur Abwertung ihrer Aktienpreise und Kreditwürdigkeit und die Unternehmen können benötigte Gelder nicht mehr akquirieren. Unmittelbare Folgen dieser ökonomischen Probleme sind Insolvenzen und Verstaatlichungen. Darüber hinaus entwickeln sich von Massenmedien, politischen Ausschüssen und Rechtsverfahren getragene Diskurse zur grundsätzlicheren Frage, ob das Rechnungswesen wirtschaftlichen (Miss-)Erfolg zuverlässig abbildet.
Erwartungen wurden also enttäuscht. Doch welche Erwartungen hatten sich in Bezug auf Unternehmensbilanzen gebildet? Die Form des Rechnungswesens, in der alle betriebsrelevanten Ereignisse (Güter, Mitarbeiter, Kunden, Entscheidungen) zusammengeführt und als monetäre Größen aufeinander bezogen werden können, legt es nahe, sich analytisch auf wirtschaftsspezifische Erwartungen zu konzentrieren (Chiapello 2009). In der englischsprachigen Accountingforschung hingegen finden sich Hinweise auf eine andere Lesart organisierter Rechenpraktiken: Von dem Begriff der Rechenschaft (‚Account‘) ausgehend lassen neoinstitutionalistische Arbeiten auch nichtökonomische Organisationsumwelten als Adressaten von Kommunikation sichtbar werden (Meyer 1986). Und auch die sich auf Foucault beziehenden Accountingstudien nehmen Organisation-Umwelt-Beziehungen unter der Perspektive (politischer) Macht in den Blick (Burchell et al. 1991).
In dem Seminar machen wir uns mit diesen zwei Strömungen der Accountingforschung vertraut und fragen, wie sie das Verhältnis von Organisationen und ihren Umwelten entlang des Rechnungswesens konzipieren. Im Fortgang des Seminars erschließen wir uns das Thema über einen bislang wenig erprobten empirischen Zugang. Die bestehende Accountingliteratur analysiert Organisationsumwelten überwiegend am Beispiel stabiler oder sich im Laufe von Dekaden wandelnder Strukturen. Wir werden hingegen jene oben genannten Fälle plötzlicher, unerwarteter Bilanzänderungen nutzen, um die in diesem Rahmen explizit kommunizierten Normalitätserwartungen zu rekonstruieren.
Burchell, G., C. Gordon & P. Miller (Hrsg.), 1991: The Foucault Effect. Studies in Governmentality. Chicago: University of Chicago Press.
Chiapello, E., 2009: Die Konstruktion der Wirtschaft durch das Rechnungswesen. S. 125–149 in: R. Diaz-Bone & G. Krell (Hrsg.), Diskurs und Ökonomie. VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Meyer, J.W., 1986: Social Environments and Organizational Accounting. Accounting, Organizations and Society 11: 345–356.
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Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.