Der aktuell sowohl in der Öffentlichkeit wie auch in der Wissenschaft sehr virulent geführte Inklusionsdiskurs, also vor allem die Frage eines Gemeinsamen Lernens von behinderten und nicht-behinderten Kindern und Jugendlichen in der allgemeinen Schule, kann als eine entscheidende Wegmarke in der Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung bzw. Menschen mit Behinderung angesehen werden. Mit dem Stufenmodell zur Entwicklung der Sonderpädagogik nach Sander (2004; 2008) kann dieser Prozess in unterschiedlichen Phasen von der Exklusion über eine Separation hinzu Integration und Inklusion beschrieben werden. Als unterste Stufe kann dabei im historischen Kontext noch die Phase der Extinktion (vgl. Wocken 2009) ergänzt werden. Diese Stufenabfolge ist allerdings nicht als ein linearer Prozess der fortlaufenden Höherentwicklung zu verstehen, sondern war und ist stets von Brüchen, Rückschritten, Diskontinuitäten und Parallelitäten geprägt. Die wechselvolle Geschichte des Umgangs mit Behinderung kann besonders anhand der in unterschiedlichen Epochen und verschiedenen kulturell-gesellschaftlichen Kontexten auftretenden Forderung nach Euthanasie und der Diskussion um Eugenik, also der Frage des grundsätzlichen Lebensrechtes von Menschen mit Behinderung, aufgezeigt werden. Hierbei spannt sich der Bogen von einer grundlegenden Ablehnung, Ausgrenzung oder Tötung von Menschen mit körperlichen oder geistigen Abweichungen in Antike oder Mittelalter, über sozialdarwinistisch Theorien der Rassenhygiene mit Beginn der Neuzeit und deren tödlicher Zuspitzung in der NS-Zeit, bis hin zu aktuellen Fragen der Bioethik und einer „behinderungsfreien Gesellschaft“ als Versprechen eines neuen Machbarkeitsdenkens der Medizin.
Ausgehend von einem generellen Bewusstsein für den Umgang mit Behinderung in vergangenen Zeiten und Kulturen, sollen orientiert am Stufenmodell von Sander (2004; 2008) im historischen Rückbezug wichtige Grundlage erarbeitet werden, um das bestehende deutsche (Sonder-)schulsystem und die aktuelle Diskussion um die Verortung sonderpädagogischer Profession innerhalb inklusiver Schulentwicklung nachhaltiger verstehen zu können. Vereinfacht könnte man daher auch fragen: „Warum gibt es überhaupt Sonderschulen? Oder allgemeiner gesagt: „Warum gibt es eigentlich eine spezielle „Sonder“-Pädagogik?“ Es wird daher in diesem Seminar auch um eine Klärung des Verhältnisses von Regel- zu Sonderschule bzw. Allgemeiner zu Sonderpädagogik gehen. Dies soll einerseits entlang der Entstehung und Entwicklung einer institutionalisierten Heil- und Sonderpädagogik geschehen. Andererseits sollen immer wieder führende Akteure ihrer Zeit anhand von Originalquellen zu Wort kommen, um ihre Motive, Argumente und Perspektiven kennen zu lernen und kritisch zu diskutieren. Neben der Beschreibung und Auseinandersetzung mit den Arbeiten und Institutionen der Pioniere eines Unterrichts für „Blinden“, „Taubstummen“, „Krüppeln“ oder „Idioten“, soll ein besonderer Fokus auf der sogenannten „Hilfsschulbewegung“ liegen. Anders als bei der „älteren Heilpädagogik“ (Bleidick 1999), welche durch Schaffung eigener separierender Institutionen Exklusion im Sinne eines Ausschlusses von Bildung überhaupt erst überwinden konnten, wurde durch die neuere Institution der Hilfsschule, durch Abspaltung von der Volksschule und forciert durch den sich etablierenden Berufsstand der Hilfsschullehrer:innen, erst eine neue Kategorie „lernbehinderter“ Schüler:innen geschaffen (vgl. Werning & Lütje-Klose 2016; Hänsel 2017). Die Auswirkungen dieses deutschen Sonderweges auch in der Phase des massiven Ausbaus des Sonderschulsystems nach dem zweiten Weltkrieg sollen bis in die heutige Zeit verfolgt und mit Blick auf ein sonderpädagogisches Professionsverständnis kritisch hinterfragt werden. Dies erfordert auch die bei Sander (2004) als Zielperspektive beschriebene Entwicklung von der Separation zur Integration bzw. Inklusion in ihren wesentlichen Wegmarken nachzuzeichnen. Angefangen mit der Empfehlung des Deutschen Bildungsrates von 1974 und den ersten integrativen Schulversuchen in den 1980er Jahren über ein verändertes Verständnis sonderpädagogischen Förderbedarfs ab den 1990er Jahren hinzu aktuellen schulpolitischen Bestrebungen zu einem inklusiven Schulsystem, sollen diese Veränderungen, auch in ihrer Parallelität und Widersprüchlichkeiten zu einem weiteren Ausbau des Sonderschulsystems, aufgezeigt und diskutiert werden. Es gilt abschließend zu fragen „Quo vadis Sonderpädagogik?“ Wie kann oder muss die schulische Sonderpädagogik vor dem Hintergrund ihrer geschichtlichen Entwicklungslinie in einer zukünftig veränderten Bildungslandschaft ihre Rolle neu bestimmen? Welche Lehren können aus dem geschichtlichen Umgang mit Behinderung für diese schulischen wie auch gesellschaftlichen Veränderungsprozesse gezogen werden? Diese sicherlich auch im Fachdiskurs noch offenen Fragen gilt es demnach perspektivisch aufzuzeigen.
In dieser Veranstaltung findet ein Platzvergabeverfahren statt. Bitte informieren Sie sich hier über den Ablauf: https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/erziehungswissenschaft/studium-und-lehre/einrichtungen/bie/faq-stundenplan/
Vorheriger Besuch der Vorlesung "Einführung in die Sonderpädagogik und inklusive Pädagogik" (gilt nur für Studierende des Lehramtes G+ISP bzw. HRGe+ISP)
Empfehlenswert ist auch der vorherige oder parallele Besuch eines Seminars zu "Grundfragen der Inklusiven Pädagogik und Sonderpädagogik" (ISP1-E1).
Im LernraumPlus der Veranstaltungen finden Sie umfängliche Hinweise zu grundlegender und weiterführender Literatur.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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25-BE-IndiErg13 Inklusion | E2: Theorie und Geschichte der inklusiven Pädagogik, der Heil- und Sonderpädagogik | Studienleistung
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Studieninformation |
25-ISP1 Grundfragen der Sonderpädagogik und inklusiven Pädagogik | E2: Die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunktes Lernen | Studienleistung
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Studieninformation |
25-ISP1_2 Grundfragen der Sonderpädagogik und inklusiven Pädagogik sowie der Heterogenität und individuellen Förderung | E2: Die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunktes Lernen | Studienleistung
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Studieninformation |
25-UFP3 Werte und Ziele in Erziehung und Bildung | E1: Geschichte/Klassiker der Pädagogik | Studienleistung
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Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Studiengang/-angebot | Gültigkeit | Variante | Untergliederung | Status | Sem. | LP | |
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Studieren ab 50 |
Für das Seminar erhalten Sie 3 Leistungspunkte. Die erfolgreiche Teilnahme setzt sich aus den folgenden Elementen zusammen:
Entwicklung einer „Forschungsfrage“ zu Beginn des Seminars und Bearbeitung der Fragestellung bis zur letzen Sitzung am Ende des Seminars.
Erstellung eines Eintrags für den Glossar (mind. 200 Wörter) zu zentralen Begriffen im Kontext der Seminarthematik.
Bearbeitung von mindestens 2 Wahlaufgaben aus den vier Themenblöcken 1 bis 4 – Deadline für die jeweilige Aufgabe ist der Abschluss des entsprechenden Themenblocks gemäß Seminarplan. Bitte beachten Sie daher die Abgabefristen im LernraumPlus.
Zu dieser Veranstaltung existiert ein Lernraum im E-Learning System. Lehrende können dort Materialien zu dieser Lehrveranstaltung bereitstellen: