Am 28. September 1962 stellte der Hessische Minister für Arbeit, Volkswohlfahrt und Gesundheitswesen bei der Bundesprüfstelle einen Antrag auf Indizierung eines Buches wegen Jugendgefährdung: „Die Schrift enthält zahlreiche Schilderungen von Obszönitäten, die geeignet sind, Kinder und Jugendliche sittlich zu gefährden. [. . .] Die beanstandeten Passagen, die derartige bis ins einzelne gehende Szenen mit betonter Ausführlichkeit bringen, sind ohne jeden erkennbaren Sinn in die Erzählung eingestreut worden. Die Art und Weise dieser Darstellungen läßt den Schluß zu, daß sie nur des obszönen Reizes willen aufgenommen wurden. Sie sind geeignet, die Phantasie jugendlicher Leser negativ zu belasten, sie zu sexuellen Handlungen zu animieren und damit die Erziehung zu beeinträchtigen. [...] Die sich in diesem Rahmen abspielenden Schilderungen von einzelnen mehr oder weniger banalen Begebenheiten, die im übrigen ausschließlich negative Erscheinungen aufweisen, verdienen weder vom Stil noch vom Stoff her ein besonderes literarisches Interesse. Wenn auch vielleicht dem Autor eine gewisse Fähigkeit und eine eigene Art des Schreibens nicht abzusprechen ist, kann sein Buch aber unter keinem Gesichtspunkt als der Kunst dienend im Sinne des §1 Abs. 2 Nr. 2 GjS bewertet werden.“ Bei dem Autor, dem „eine gewisse Fähigkeit […] nicht abzusprechen ist“, handelte es sich um den späteren Literaturnobelpreisträger Günter Grass, bei dem Buch, das „unter keinem Gesichtspunkt als der Kunst dienend“ eingestuft werden kann, um die mittlerweile kanonische Novelle „Katz und Maus“. Doch war dieser Satz juristisch entscheidend: Dem Werk musste argumentativ der Status eines Kunstwerkes abgesprochen werden, da das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte (GjS) sonst nicht gegriffen hätte. Der erwähnte Abs. 2 schließt eine Indizierung aus, wenn ein Werk „der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre dient“.
Das vom Verleger Günter Grass’ in Auftrag gegebene Gegengutachten von Hans Magnus Enzensberger zerpflückte diese Argumentation jedoch in der Luft: „Die von dem Ministerialbeamten Dr. Englert gezeichnete Begründung des Antrags besteht aus einer Reihe von Behauptungen, für die keinerlei Beweise angetreten werden […] Erweislich falsch sind insbesondere die folgenden Behauptungen des Verfassers: a) Die beanstandeten Passagen seien ‚ohne jeden erkennbaren Sinn in die Erzählung eingestreut‘. Allein die Vokabel ‚eingestreut‘ beweist die Unzuständigkeit des Gutachters. Jedem denkenden Menschen dürfte bekannt sein, daß literarische Werke nicht durch Streuung, das heißt durch die zufällige Kombination von ‚Passagen‘ entstehen. Sie werden geschrieben: das heißt, sie werden komponiert. Nicht nur die Literaturkritik, sondern die literarische Öffentlichkeit des In- und Auslandes ist sich darüber einig, daß die Novelle, die zur Rede steht, außergewöhnlich streng und dicht komponiert ist. Daß Herr Dr. Englert in ihrem Bau keinen Sinn zu erkennen vermag, ist bedauerlich. Er steht mit diesem Unvermögen allein da. Unter den Begriff des normalen, unbefangenen Lesers, wie ihn die Rechtsprechung versteht, fällt ein Leser nicht, der den sinnvollen Bau einer Novelle nicht erkennen kann. […] b) Die Überschreitung seiner geistigen und juristischen Kompetenz wird besonders deutlich in der Behauptung, die ‚Schilderungen‘ von Günter Grass ‚verdienen weder vom Stil noch vom Stoff her ein besonderes literarisches Interesse‘. […] Was ‚besonderes literarisches Interesse‘ verdient und was nicht, kann nicht von der Ministerialbürokratie entschieden werden, sondern einzig und allein von einer literarischen Kritik, die sich die Begründung ihrer Urteile nicht zu ersparen pflegt.“
Vom „Mephisto-Urteil“ bis zum „Fall Esra“: Immer wieder standen literarische Texte vor Gericht und immer wieder wurde dabei zentral über die Frage verhandelt, ob es sich bei dem Werk um Kunst handelt – und ergo auch darum, was Kunst überhaupt ist und ausmacht.
Untersucht werden soll in diesem Seminar, welches Verständnis von Literatur in den juristischen Schriftsätzen, den germanistischen Gutachten sowie den Urteilsbegründungen von Gerichtsprozessen um literarische Texte vermittelt wird. Analysiert werden dabei sowohl die Form und Rolle der Literatur, als auch deren Macht und Wirkmacht, oder – um zwei Begriffe aus einem der zentralen diesbezüglichen Gutachten zu übernehmen – dem Werkbereich und dem Wirkbereich (vgl. BVerfG, 1 BvR 1783/05 vom 13. 06. 2007). Dabei soll es weniger um die Verhandlung von Zensur oder die Legitimität bzw. Illegitimität von entsprechenden Urteilen gehen, sondern um die Rekonstruktion des Bildes von Literatur als Kunst, das diesen entnommen werden kann.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum | |
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wöchentlich | Mi | 16-18 | T2-234 | 06.10.2014-06.02.2015
nicht am: 24.12.14 / 31.12.14 |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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23-GER-Gru-Lit Grundschulrelevante Aspekte der germanistischen Literaturwissenschaft | fachwissenschaftliche Vertiefung: Literaturwissenschaft | Studienleistung
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23-GER-PLit3 Autoren, Werke, Diskurse | Veranstaltung 1 (mit Modulprüfung) | Studienleistung
benotete Prüfungsleistung |
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Veranstaltung 2 | Studienleistung
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Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Studiengang/-angebot | Gültigkeit | Variante | Untergliederung | Status | Sem. | LP | |
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Germanistik / Master of Education | (Einschreibung bis SoSe 2014) | BaGerP2G | 2/5 | ||||
Germanistik (GHR) / Master of Education | (Einschreibung bis SoSe 2014) | BaGerP2G | 2/5 |