Erinnern heißt immer auch Vergessen. Neue Ereignisse überlagern und ändern bestehende Erinnerungen, wie das Beispiel Frankreichs um 1800 zeigt, als jede Phase der Revolution mit einer erinnerungspolitischen Neuorientierung einherging. Vergessen passiert auch dann, wenn Zeitzeugen sterben und Gedächtnis nur noch in tradierter Form vorliegt, wie es bei den Überlebenden des Holocausts zunehmend der Fall ist. Schließlich kann Vergessen ein politischer Akt sein; so dienten Amnesieregelungen in neuzeitlichen Friedensverträgen der Vorbeugung künftiger Gewalt. Machen diese Beispiele klar, dass Gedächtniskultur keineswegs ein Phänomen der Nachkriegszeit ist, zeigen sie zugleich die dynamische Wechselwirkung von Erinnern und Vergessen. Diese Dynamik zu hinterfragen und sowohl historisch als auch historiographisch einzuordnen, ist Ziel dieser Lehrveranstaltung.
Nachdem der französische Soziologe Maurice Halbwachs und der deutsche Kunsthistoriker Aby Warburg bereits in den 1920er Jahren ein wissenschaftliches Interesse an Gedächtniskulturen gezeigt hatten, erfolgte ab den späten 1980er Jahren ein Boom der ‚memory studies‘. Wissenschaftler thematisierten die Beziehung von Geschichte und Gedächtnis, das Verhältnis von individuellem und kollektivem Gedächtnis, wie auch die Materialität von Erinnerungskulturen. Neue Begrifflichkeiten wurden eingeführt, wie kulturelles Gedächtnis (Jan und Aleida Assmann) und Erinnerungsorte (Pierre Nora). In den vergangenen Jahren hat diese Debatte an gesellschaftspolitischer Dringlichkeit gewonnen. Das bezeugen z.B. das Ringen um Denkmäler, die an die Konföderierten Staaten von Amerika – und damit an deren Sklaverei- und Rassenpolitik – erinnern, wie auch der Konflikt um das Grab von General Franco im Valle de los Caídos (Tal der Gefallenen) nahe Madrid. Anhand von Beispielen, die den sich wechselnden Umgang mit Gedächtniskulturen in der europäischen und amerikanischen Geschichte seit der Französischen Revolution in den Blick nehmen, werden in dieser Lehrveranstaltung die wichtigsten Theorien und Konzepte der ‚memory studies‘ vorgestellt. Ziel des Seminars ist, die kulturelle Spezifität, Zeithaftigkeit und Multiperspektivität von Gedächtniskulturen zu beleuchten.
Die Literatur ist sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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22-2.1 Theoriemodul | Grundseminar Historiographie | Studieninformation | |
Grundseminar Theorien in der Geschichtswissenschaft | benotete Prüfungsleistung
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Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Ich erwarte eine aktive Teilnahme an der Seminardiskussion und einen kleineren schriftlichen Beitrag. Das Seminar schließt mit einer mündlichen Prüfung von 15-20 Minuten Dauer.
Zu dieser Veranstaltung existiert ein Lernraum im E-Learning System. Lehrende können dort Materialien zu dieser Lehrveranstaltung bereitstellen: