230049 Der Blick des Lesers, die Hand der Autorin: Lese- und Schreibszenen in Literatur und bildender Kunst (S) (SoSe 2025)

„Meinem Brief an [Karl] Kraus war wohl anzumerken, gegen welche Widerstände er geschrieben wurde. Die Handschrift wechselte mindestens viermal auf den zwei Seiten. Aber der Inhalt war wenigstens unverfänglich“, schreibt der Psychoanalytiker Sigmund Freud in einem weiteren Brief an Karl Abraham. Der Widerwille zeigt sich nicht nur im Inhalt, sondern auch im Schriftbild. Wie hängen hier Handschrift und Wille, vielleicht gar Handschrift und Identität mit einander zusammen?
Auch Max Frisch reflektiert 1950 in seinem Tagebuch über das Verhältnis von Schreiben: „Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen.“ Schreiben und Lesen sind hier Mittel der Selbst-Begegnung, die ganz konkret miteinander zusammenstehen. Inwiefern sind Lesen und Schreiben Kulturtechniken selbstbewusster und selbstbildender Prozesse? Wie werden in Text und Bild Differenzen mit Hinblick auf Klasse und Geschlecht produziert? Welche Darstellungen des Lesens und Schreibens gibt es und mit welchen Figuren sind diese verknüpft? Was geschieht, wenn sich Schrift und Bild überlagern? Was zeigt sich, wenn Schrift oder Schreibgesten asemantisch werden?

Mit diesen und weiteren Fragen soll sich das Seminar auseinandersetzen. Der Ansatz des Seminars ist interdisziplinär angelegt und verbindet kunst- und bildwissenschaftliche Perspektiven mit literaturwissenschaftlichen Analysen. Schreiben und Lesen als Kulturtechniken sind nämlich nicht nur zentrale Themen in Tagebüchern und Briefen, sondern auch Gegenstand fiktionaler Literatur, Bildender Kunst und im Film. Dieses Seminar widmet sich den vielfältigen Reflexionen über das Lesen, das Selbst-Lesen und das Schreiben. Es untersucht, wie diese Prozesse in Text, Bild und Film inszeniert werden, und beleuchtet ihre historischen, medialen und kulturellen Besonderheiten.