Das Konzept der „gierigen Institution“ ist mittlerweile ein soziologischer Klassiker. Lewis A. Coser, der den Begriff in den 1960er und 1970er Jahren mithilfe zahlreicher empirischer Studien geprägt hat, adressiert damit im Kern Formen totalen Engagements in „organisierten Gruppen“. Gemeint ist, dass ein Individuum seine Energien nahezu ausschließlich für die Teilnahme an nur einem einzigen sozialen Kreis aufwendet. Das ist soziologisch erstaunlich, findet dieses Engagement doch in einem gesellschaftlichen Kontext statt, in dem sich die Zahl sozialer Kreise, an denen jemand teilnehmen könnte, gegenüber früheren Zeiten vervielfacht hat bzw. weiter vervielfacht.
Das Problem mit Klassikern ist, dass jeder sie kennt, sie aber im Grunde nicht mehr gelesen werden – geschweige denn forschungsleitend sind. Man darf Hoffnung haben, dass es sich bei Cosers „gierigen Institutionen“ anders verhält, da es im Jahr 2015 erstmals in deutscher Übersetzung erschienen ist. Gleichwohl stellt sich die Frage nach der Aktualität des Konzepts, zumal Coser in erster Linie historische, heute nicht mehr in dieser Form existente Phänomene analysiert hat. Marianne Egger de Campo (Übersetzerin und Herausgeberin der deutschen Fassung) argumentiert eindrücklich, dass das Konzept wie gemacht ist, um die sozialen Beziehungen von Technologie- und Internetkonzernen zu ihren Mitarbeitenden und Nutzenden zu beschreiben und zu erklären. Aber ist es nicht auch wie gemacht, um z.B. die weite Verbreitung schlecht bezahlter Praktika oder die bemerkenswerten Rekrutierungserfolge des Islamischen Staats unter ‚westlichen‘ Jugendlichen zu analysieren? Das werden wir diskutieren.
Geplante Themen sind:
— Freiwilligkeit, totales Engagement und Zwang – Die drei zentralen Elemente des Konzepts „gierige Institution“
— Wie lässt sich die „Gier“ bestimmter Institutionen soziologisch erklären?
— Überschneidungen und Differenzen zwischen den Konzepten „gierige Institution“ einerseits, „totale Institution“ (Erving Goffman) und „Zwangsorganisationen“ (Stefan Kühl) andererseits
— Ausgewählte empirische Fallstudien von Coser
— Auf welchen Gegenstandsbereich beschränkt sich das Konzept „gierige Institution“?
— Wie aktuell ist das Konzept „gierige Institution“?
— Welche aktuellen sozialen Ereignisse und Vorgänge könnte man mit dem Konzept „gierige Institution“ soziologisch erklären? (Entwicklung eigener Fallstudien für Haus- und Bachelorarbeiten)
Didaktisch ist das Seminar als Lese- und Schreibwerkstatt angelegt. Es basiert zum einen auf der intensiven Lektüre von ausgewählten Kapiteln des Buchs „Gierige Institutionen“ sowie von ergänzender Seminarliteratur. Dabei wird es auch darum gehen, Lesestrategien zu lernen und weiterentwickeln, wie man sich gezielt, gewinnbringend und ergebnisorientiert mit wissenschaftlichen Texten auseinandersetzt, um auf ihrer Basis ‚total engagiert‘ an der Seminardiskussion teilzunehmen. Zum anderen werden Sie sich immer wieder ‚schreibend‘ mit dem Seminarthema und der Seminarlektüre auseinandersetzen. Dadurch haben sie in erster Linie die Gelegenheit, weitmöglich eigene Haus- und Abschlussarbeiten vorzubereiten und bereits in ersten Ansätzen durchzuführen, die das Konzept „gierige Institution“ nutzen. Auch hier lernen sie Strategien. Diese sollen es ihnen ermöglichen, eine bearbeitbare Fragestellung zu entwickeln, sich inhaltlich zu fokussieren und ein überzeugendes Argument zu formulieren.
Wer sich - aus welchen Gründen auch immer - nicht imstande sieht, sich intensiv mit der Seminarlektüre auseinanderzusetzen und in regelmäßigen Abständen etwas für das Seminar zu schreiben, ist in dieser Veranstaltung falsch.
Notwendige Teilnahmevoraussetzungen
— Erfolgreiche Teilnahme an Einführungsveranstaltungen zur Soziologie
— Bereitschaft, sich mithilfe der im Seminarplan angegebenen Lektüre intensiv auf die einzelnen Sitzungen vorzubereiten
— Diskussionsfreude
— Aufgeschlossenheit für die Argumente anderer
Empfohlene Vorkenntnisse
— Erfolgreiche Teilnahme an Einführungsveranstaltungen zur Organisationssoziologie
— Argumentationstheoretische Grundkenntnisse
— Geschichtskenntnisse
— Regelmäßige Zeitungslektüre (oder Nutzung äquivalenter Quellen, um über aktuelles Zeitgeschehen informiert zu sein)
Coser, L.A., 2015: Gierige Institutionen. Soziologische Studien über totales Engagement. Berlin: Suhrkamp. (Amerik. Original: Coser, L.A., 1974: Greedy Institutions. Patterns of Undivided Commitment. New York: Macmillan.)
Einen guten Einstieg bietet:
Schönberger, D., 2015: Rezension: Coser, Lewis A. (1974): Greedy Instiutions. S. 198–202 in: S. Kühl (Hrsg.), Schlüsselwerke der Organisationsforschung. Wiesbaden: Springer VS. (http://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-09068-5)
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
---|
Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
---|---|---|---|
30-M23 Fachmodul Organisation I | Seminar 1 (z. B. Grundlagen der Organisationssoziologie) | Studienleistung
|
Studieninformation |
Seminar 2 | Studienleistung
|
Studieninformation | |
- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation | |
30-M32 Fachmodul Organisation II (erweitert) | Problemfeldanalyse oder Vertiefungsseminar | Studienleistung
|
Studieninformation |
Vertiefungsseminar | Studienleistung
|
Studieninformation | |
- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Studiengang/-angebot | Gültigkeit | Variante | Untergliederung | Status | Sem. | LP | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
Sozialwissenschaften GymGe als zweites Unterrichtsfach / Master of Education | (Einschreibung bis SoSe 2014) | Fachmodul (FM) Org | 4 | (bei Einzelleistung 2 LP zusätzlich) |
Wer sich nicht imstande sieht, sich intensiv mit der Seminarlektüre auseinanderzusetzen und in regelmäßigen Abständen etwas für das Seminar zu schreiben, ist in dieser Veranstaltung falsch.
Bitte beachten Sie: Falls Sie in der ersten Sitzung nicht anwesend sind, können Sie nicht mehr am Seminar teilnehmen - es sei denn, Sie melden sich vorher mit gutem Grund ab.
Für die Bescheinigung der aktiven Teilnahme bzw. einer Studienleistung
— Regelmäßige körperliche und geistige Anwesenheit, aktive Beteiligung an der Seminardiskussion
— Lektüre der erforderlichen Literatur zu jeder Sitzung
— Memos zu mindestens fünf Texten, die für die Sitzungen vorbereitet werden müssen
Zusätzlich für eine benotete Einzelleistung
Sie verfassen eine Hausarbeit zu einer Frage, die wir im Rahmen des Seminars diskutieren bzw. die einen Seminarbezug hat. Ihre Texte sollten problemorientiert, anschaulich und argumentativ sein. Wählen Sie Ihre Frage sehr bewusst – eine gute Frage wird Sie beim Schreiben inspirieren. Ich unterstütze Sie gerne bei der Themenfindung und der Erarbeitung Ihres Texts. Sprechen Sie mich dazu ruhig an.
Ein Wort zum Umfang: Sie werden es schwer haben, etwas Substantielles in weniger als 4.000 Wörtern auszudrücken. Falls Sie demgegenüber 8.000 Wörter überschreiten, werden Sie selbst den aufgeschlossensten Leser langweilen.