In der modernen Welt befinden wir uns in einem permanenten Wechsel von Zugehörigkeiten und Rollen: In unserem Privatbereich sind wir etwa Sohn oder Tochter, dann Partner oder Partnerin, in Organisationen sind wir Student oder Studentin, Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin. Es folgt unser Engagement im Sportverein, dem Ehrenamt und/oder den freundschaftlichen Beziehungen, die ihrerseits gepflegt werden wollen. Wir leben also, wie Lewis Coser (2015: 12) im Anschluss an Georg Simmel treffend formuliert, „im Schnittpunkt vieler sozialer Kreise“, typischerweise sogar in einem ganzen „Netz sozialer Gruppenbildungen“. Bei aller Zeit, Kraft und damit verbundenen Ressourcen, die uns solche Aktivitäten abverlangen, sind diese multiplen Zugehörigkeiten, die ständigen Trennungen und Differenzierungen unserer Selbst jedoch nicht ungewöhnlich, sondern ganz im Gegenteil sogar Bestandteil der meisten Lebenszu- und -umstände. Zumindest würde es auf große Irritation stoßen, wenn wir nur und ausschließlich auf eine Zugehörigkeit fokussiert wären, so wie wir umgekehrt ebenso verwirrt wären, wenn eine Organisation uns plötzlich sehr viel mehr abverlangt als die Zeit, die ihr rechtlich legitimerweise zusteht.
Interessanterweise schließt das aber nicht aus, dass manche soziale Kollektive, allen konkurrierenden Ansprüchen an den Menschen zum Trotz, ihre Forderungen an das Individuum nicht nur weitgehend erhöhen, sondern im Sinne einer allumfassenden Zugehörigkeit maximieren wollen. Man kann diese Zusammenschlüsse als „gierige Institutionen“ (Coser 2015) bezeichnen, insofern sie totales Engagement und exklusive Loyalität ihrer Mitglieder verlangen, ohne notwendigerweise hohe Mauern und Zäune, die Anwendung von Gewalt oder andere Zwangsmechanismen einzusetzen. Gierige Institutionen nutzen stattdessen nicht-physische Barrieren, um sich und ihre Mitglieder von einer externen Umwelt abzugrenzen – und um somit andere Engagements sowie Beziehungen ihrer Mitglieder zur Außenwelt auf ein Minimum zu konzentrieren.
In unserem Seminar werden wir uns mit Lewis Cosers‘ inzwischen zum soziologischen Klassiker aufgestiegenen Werk beschäftigen. Es geht uns dabei um klassische und modernere Fälle und Fragestellungen zu gierigen Institutionen, ihren Funktionen sowie Folgen – seien dies nun Sekten, lebensgemeinschaftliche Utopien oder von den sozialen Medien hochstilisierte (Schönheits-)Ideale, die größte Hingabe fordern. Zudem werden wir uns zumindest in einer Sitzung mit einem vermeintlich geschlossenen System und gierigen Institution, wie dem eines „Clans“ befassen und uns die Frage stellen, inwiefern Fremd- und Selbstzuschreibungen Sozialformen konstruieren.
Einige allgemeinere Anmerkungen:
- Die Planungen werden im Hinblick auf ein einführendes Bachelorseminar mit wenigen bis keinen (Vor-)Kenntnissen vorgenommen. Da wir davon ausgehen, dass sich einige von Ihnen noch am Anfang des Studiums befinden werden, werden wir im Laufe des Seminars immer wieder dazu kommen, über das Lesen und Schreiben von (soziologischen) Texten zu sprechen. Es handelt sich hierbei um notwendige Kompetenzen, die einem im gesamten Soziologiestudium begleiten werden, weswegen wir auch für die Studienleistung auf Schreibaufgaben zurückkommen werden – dazu dann aber mehr im Seminar selbst.
- Beachten Sie bitte, dass wir von Woche zu Woche ca. 20-30 – teilweise auch englischsprachige – Seiten lesen werden, die sich im Normalfall nicht mal eben überfliegen lassen. Das mag auf den ersten Blick etwas abschreckend klingen, wird aber eine gute Übung für Ihr weitergehendes Studium sein (bitte glauben Sie uns: Sie werden sich nicht vor englischsprachigen und/oder schwierigen Texten drücken können). In jedem Fall bedeutet das aber, dass unser Seminar nur besuchen sollten, wenn Sie dazu bereit sind, die entsprechende Arbeitszeit zu investieren.
- Last but not least: Diese Veranstaltung stellt keine Vorlesung dar, in der Sie fertiges Wissen serviert bekommen. Das Seminar wird darauf ausgelegt, dass wir textnahe Diskussionen führen, bei denen Sie eine gewichtige Rolle einnehmen werden.
Wenn Sie sich nach wie vor vorstellen könnten, das Seminar zu besuchen, dann kommen Sie doch einfach zur ersten Sitzung dazu. Wir werden uns hier die Frage stellen, ob wir (oder vielmehr: Sie) in der richtigen Veranstaltung sitzen. Wenn Sie schon vorab Fragen haben, können Sie uns gerne per Mail kontaktieren: stella.nueschen@uni-bielefeld.de & dennis.firkus@uni-bielefeld.de.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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30-M23 Fachmodul Organisation I | Seminar 1 (z. B. Grundlagen der Organisationssoziologie) | Studienleistung
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Studieninformation |
Seminar 2 | Studienleistung
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- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Zu dieser Veranstaltung existiert ein Lernraum im E-Learning System. Lehrende können dort Materialien zu dieser Lehrveranstaltung bereitstellen: