Mindestens seit den Zeiten des Kalten Krieges herrscht im populären Diskurs die Idee einer Diktatur als Monster mit unmenschlichen Antlitz. Dieses Bild wirkt schockierend: hier regieren Diktatoren, hier wird die Freiheit beraubt und werden Menschen getötet. Die Diktaturen sind kaltblütig, man findet keine Spuren von Parlamentarismus, Marktwirtschaft, Zivilgesellschaft – also von den Merkmalen der klassischen westlichen Moderne.
Jedoch hat die Diktaturforschung der letzten Jahrzehnte ein differenzierteres Bild von Diktaturen mit den drei zentralen historiographischen Fragen herausgearbeitet: 1) Wie funktionierten die Diktaturen?, 2) Wie wurde die Lebenskraft der „geschlossenen Gesellschaften“ gewährleistet und 3) Wie formten die Diktaturen eigene Subjekte? Solche Fragestellungen weisen auf die Räume der Partizipation und Selbst-Realisierung, Praktiken der Zugehörigkeit und Mobilisierung, Politik der Wohlfahrt und der Erinnerung sowie die Strukturen der Solidarität, Vertrauen und Sicherheit von mehreren nichtdemokratischen Ordnungen hin, die nicht ausschließlich durch Gewalt, Zwang und Furcht regiert wurden.
Vergleichend und verflechtend werden wir in diesem Seminar aus unterschiedlichen methodologischen und theoretischen Perspektiven ausloten, wie die diktatorische Herrschaft in Europa des 20. Jahrhunderts legitimiert, ausgeübt und ausgehandelt wurde. Die Kombinierung der Ansätze von Vergleich, Verflechtung und Transfer soll die neuen Fragen und Erklärungsmuster zur Diktaturforschung generieren. Auf diese Weise können wir im Seminar die Stabilität von diesen alternativen Ordnungen der Moderne verstehen und die Neuetablierung von antidemokratischen Staaten bzw. die Stärkung der autokratischen Tendenzen in westlichen Demokratien in der Gegenwart erklären.
Arendt H., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt am Main 1955.
Corner P. (ed.), Popular Opinion in Totalitarian Regimes: Fascism, Nazism, Communism, Oxford 2009.
Corner P., Lim J.-H. (ed.), The Palgrave Handbook of Mass Dictatorship, London 2016.
Fitzpatrick Sh. (ed.), Stalinism: New Directions, London 2000.
Fulbrook M., Ein ganz normales Leben: Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt 2008.
Geyer M., and Sheila Fitzpatrick Sh. (ed.), Beyond Totalitarianism: Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009.
Kershaw I., Lewin M. (ed.), Stalinism and Nazism. Dictatorships in Comparison, Cambridge 1997.
Lüdtke A., Alltagsgeschichte: zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989.
Schmiechen-Ackermann D., Diktaturen im Vergleich, Darmstadt 2002.
Siegelbaum L. (ed.), Borders of Socialism: Private Spheres of Soviet Russia, Basingstoke 2006.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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22-M-4.1 Theoriemodul | Theorieseminar Transnationale Geschichtsschreibung, Transfer und Vergleich | Studieninformation | |
29-EuIn_a Europa Intensiv | Vertiefungsveranstaltung | unbenotete Prüfungsleistung
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Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.