Akut- bzw. Schadensereignisse im Zusammenhang mit Organisationen, die als Unfälle oder Katastrophen (Flugzeugabstürze, Schiffsuntergänge, Zugentgleisungen, Gebäudeeinstürze, Infrastrukturschäden, Brandfälle, Verwaltungsfehler etc.) beobachtet bzw. registriert werden, stehen üblicherweise im besonderen Fokus der Gesellschaft. Massenmedien, die sich typisch für die Ermittlung von Hintergründen und deren Auswertung im Hinblick auf Information der Gesellschaft zuständig sehen, präsentieren entsprechende Ereignisse und ihre Bewältigung in einer Weise, die vielfältige Anschlusskommunikationen in Gang setzen kann. Damit verbunden und darüber hinausgehend partizipieren auch Recht, Politik und Verwaltung durch ihre Ermittlungen und etwaige Regulierungen an der Beobachtung und Diskussion organisatorischer Akutereignisse. Nach einer Beschreibung von Kette (2013) können Unfälle aufgrund ihres „Überraschungswertes in zeitlicher und sozialer (evtl. auch sachlicher) Hinsicht seitens der Organisation (…) beobachtet und beschrieben werden“, während Katastrophen oder katastrophale Unfälle „sowohl innerhalb der Organisation als auch der gesellschaftlichen Umwelt eine Diskontinuität“ markieren. „Ihr Überraschungswert enttäuscht etablierte Kontinuitätserwartungen und sie sind insofern nicht anschlussfähig“ (Kette 2013, S. 163; siehe Textfeld 'Konkretisierung der Anforderungen'). Organisationen können auf ihre Umwelt buchstäblich „verletzend“ einwirken; als chaotisch erfahren und häufig mit Hinweis auf unglückliche Verkettung und zufällige Konfrontation erklärt werden. Diese Vulnerabilität trifft aber auch und besonders auf die involvierten Organisationen selbst zu, da entsprechende Ereignisse Legitimationsverluste in der Umwelt nach sich ziehen können. Pointiert betrachtet scheint schon allein die Existenz komplexer, allzumal technologisch raffinierter Organisationen ein Risiko für die Gesellschaft darzustellen.
In diesem Seminar geht es um eine nähere soziologische Bestimmung und Differenzierung organisatorischer Unfälle und Katastrophen/katastrophale Unfälle. Dazu wird die Beschreibung innerhalb von Organisationen ebenso relevant erscheinen wie die Beschreibung des Geschehens als durch Organisationen verursachte Ereignisse. Näher zu unterscheiden sind Ereignisse, die im unmittelbaren Einfluss- bzw. Machtbereich von Organisationen beobachtet werden; Ereignisse, bei denen (un-)mittelbar mehrere Organisationen involviert sind und solche, die außerhalb der Veranlassung einzelner Organisationen zustandekommen bzw. eine genaue Adressierung ggf. unmöglich erscheint („natural hazards“ bzw. umweltliche Kalamitäten). Einer organisationssoziologischen Perspektive folgend, geht es um das unterschiedlich motivierte Auslösen von Änderungen und Regelabweichungen in Organisationen, die beispielsweise riskante Normalisierungen zur Folge haben können oder wechselbezügliche, eigendynamische und pfadbildende Entwicklungen in Gang setzen. Es liegt bei soziologischer Analyse, einer „linear-logischen“ Beschreibung von Schadensfällen mit Skepsis zu begegnen und dagegen die Möglichkeit schwacher Kausalitäten in Betracht zu ziehen. Auch können Personalisierungen hinsichtlich bestimmter Entscheider/Funktionsträger, so naheliegend sie erscheinen mögen, nicht unkritisch übernommen werden. Vielmehr wird zu beleuchten sein, inwieweit spezifisch organisierte Sozialsysteme Rollen, Regeln und Routinen der Entscheidungsbildung hervorbringen, die sich der individuellen Zurechnung versperren. Eine Beschreibung der Organisation als soziales System bildet insofern die Grundlage einer Beschreibung temporär und steuerungsprekär in Erscheinung tretender Akut- bzw. Schadensereignisse. Sind diese überhaupt zu vermeiden? Provoziert die zunehmende Technisierung der Organisationen unbeherrschbare Störfälle? Können Organisationen sich in gewisser Hinsicht „schützen“ oder Wege finden, prekäre Entwicklungen mithilfe organisatorischer Struktur zumindest zu „erschweren“? Welche Ansätze werden dazu in der Forschung diskutiert?
Vor allem die angelsächsische Organisationsforschung hat eine Reihe bedeutsamer Unfall- und Katastrophenstudien anhand von Beispielen „prominenter“, empirisch verarbeiteter, Fälle hervorgebracht. Deren Lektüre wird wesentlicher Bestandteil dieses Seminars sein. Hier wird es um theoretische Betrachtung der Fälle gehen, d. h. um Entscheidungsprogrammierung, Analogiebildung und Verlaufsanalyse. Die Betrachtung bezieht sich aber nicht allein auf Unfälle und Katastrophen als abgeschlossene Ereignisse, sondern ferner auf die Wege der anschließenden Bearbeitung mittels Rettungsorganisation und Untersuchungen technischer und juristischer Art. Schließlich kann die Bearbeitung eines Unglücks dessen vorläufige Fortsetzung bedeuten, d. h. nachfolgende Entscheidungen können – gerade im Versuch der Schadensbewältigung bzw. Schadensreduktion – organisatorisch weitere Probleme bzw. Schäden bewirken.
Betrachtung herausragender Ereignisse
Die Fallbreite wird nicht auf technisch bzw. technologisch gerahmte Ereignisse beschränkt bleiben, gleichwohl werden diese wegen der besonders günstigen Dokumentation überwiegend den Gegenstand bilden. Für eine Vorschau sei auf folgende Ereignisse und ihre Rekonstruktion anhand von Materialien und Studien verwiesen:
- Einsturz der Firth-of-Tay-Brücke, 1879
- Untergang der Titanic, 1912
- Mann Gulch-Waldbrand, 1949
- Flugzeugkatastrophe von Teneriffa, 1977
- Explosion der Challenger-Raumfähre, 1986
- ICE-Unglück nahe Eschede, 1998
- Einsturz der Eissporthalle Bad Reichenhall, 2006
- Flugzeugabsturz Air France, 2009
- Loveparade-Unglück in Duisburg, 2010
- Untergang der Costa Concordia, 2012
Innovativer Seminaransatz
Für das Seminar ist ein innovativer Ansatz der Wissensvermittlung vorgesehen: Zu ausgewählten Studienfällen sollen von den Studierenden mehrteilige Tweets für das Netzwerk „Twitter“ produziert werden. Die Studierenden erlernen bzw. üben dabei eine Darstellungsweise „öffentlicher Wissenschaft“, d. h. sie erproben das Aufbereiten soziologischer Erkenntnisse für ein breiteres, auch nicht-soziologisches Publikum. Die Studierenden werden bei ihren Produktionen durch den Dozenten unterstützt; das Beispiel eines Fall-Threads wird zu Beginn des Seminars vorgestellt und besprochen.
(Seminartitel angelehnt an Oelsner 1999, siehe auch Literatur)
Die Literaturliste wird im Online-Lernraum vervollständigt. Bitte beachten Sie entsprechende Hinweise nach Ihrer Anmeldung.
Das Seminar richtet sich an ein vornehmlich soziologisches/sozialwissenschaftliches Publikum. Wirtschafts- und rechtswissenschaftlich oder anderweitig Studierende können bei vorhandenem Interesse und geeignetem Studienbezug ebenfalls teilnehmen.
Barth, N.; Nassehi, A.; Schneider A. (2014): Umgang mit Unbestimmtheit. Zur Hypermodernität des Hausarztes. In: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 108, S. 59-65.
Berthod, O.; Müller-Seitz, G. (2017): Making Sense in Pitch Darkness: An Exploration of the Sociomateriality of Sensemaking in Crises. In: Journal of Management Inquiry 27 (1), S. 52-68.
Brumsen, Michiel (2011): Case Description: The ICE Train Accident near Eschede. In: Dubbink, W.; v. Liedekerke, L.; v. Luijk, H. (Hrsg.): European Business Ethics Cases in Context. Dordrecht, S. 157-168.
Duchek, S./Klaußner, S. (2013): Temporärer Umgang mit Unerwartetem: Die Analyse einer gebrochenen ICE-Radsatzwelle durch die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung. In: Managementforschung 23, S. 49-82.
Hüls, E.; Oestern, H.-J. (1999): Die ICE-Katastrophe von Eschede. Erfahrungen, Lehren, Konsequenzen. In: Notfall & Rettungsmedizin 2, S. 327-336.
Lütge, C. (2018): The Eschede Train Disaster: Ethics of Risk Management in Companies. In: SAGE Business Cases (k. Jg./Nr.), S. 1-5.
Oelsner , R. F. (1999): Katastrophen in der Technik. Von der Brücke am Tay bis zur Brücke bei Eschede. Mannheim.
Perrow, C. (1984): Normal Accidents: Living with High Risk Technologies. Princeton.
Schreyögg, G. (2013): In der Sackgasse. Organisationale Pfadabhängigkeit und ihre Folgen. In: Organisationsentwicklung 32 (1), S. 21-28.
Seibel, W.; Klamann, K.; Treis, H. (2017): Verwaltungsdesaster. Von der Love-Parade bis zu den NSU-Ermittlungen. Frankfurt/New York.
Vaughan, D. (1997): The Challenger Launch Decision: Risky Technology, Culture, and Deviance at NASA. Chicago.
Weick, K. E. (1990): The Vulnerable System: An Analysis of the Tenerife Air Disaster. In: Journal of Management 16 (3), S. 571-593.
Weick, K. E. (1993): The Collapse of Sensemaking in Organizations: The Mann Gulch Disaster. In: Administrative Science Quarterly 38 (4), S. 628–652.
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30-M32 Fachmodul Organisation II (erweitert) | Problemfeldanalyse oder Vertiefungsseminar | Studienleistung
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Vertiefungsseminar | Studienleistung
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Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Es ist die Bereitschaft zur wöchentlichen Lektürevorbereitung erforderlich. Zu einer bestimmten Zahl an Sitzungsterminen sind Protokolle sowie Input-Vorträge (Textdarstellungen im Überblick) zu leisten. Ziel ist insofern ein fachlich ambitioniertes Seminar, das freilich die Interessen der Teilnehmenden (an Fällen und Problemstellungen) angemessen berücksichtigen wird.
Alle Teilnehmenden lesen und bearbeiten bitte bereits bis zur ersten Sitzung (11.10.2018) den folgenden Text, der im Online-Lernraum bereitgestellt wird: Kette, S. (2013): Diskreditiertes Scheitern. Katastrophale Unfälle als Organisationsproblem. In: Bergmann, J.; Hahn, M.; Langhof, A.; Wagner, G. (Hrsg.): Scheitern. Organisations- und wirtschaftssoziologische Analysen. Wiesbaden, S. 159-181.
Zu dieser Veranstaltung existiert ein Lernraum im E-Learning System. Lehrende können dort Materialien zu dieser Lehrveranstaltung bereitstellen: