Versuche, Wissen über die Zukunft zu generieren und für gegenwärtige Praktiken nutzbar zu machen gibt es schon lange in der Menschheitsgeschichte - ob es sich um antike Praktiken der Weissagung durch Prophet*innenbefragung bzw. Orakelnutzung oder mittelalterliche Bestrebungen handelt, durch Konsultation von Hexen und anderen Wahrsager*innen zukünftige Ereignisse voraussehen zu können: die Zukunft war immer ein wichtiger Bezugspunkt für menschliches Handeln (Adam 2004: 82). Moderne Gesellschaften zeichnen sich jedoch, beginnend mit der Industrialisierung, durch eine besonders enge Beziehung zur Zukunft aus und nutzen zahlreiche Möglichkeiten der (wissenschaftlichen) Vorauswissensproduktion zur Kolonisierung der Zukunft (Adam/Groves 2007: xiv). Mit den jüngsten Fortschritten in den predictive analytics, d. h. den algorithmisch vermittelten "Prozess(en) der Extraktion von Informationen aus großen Datensätzen, um Vorhersagen und Schätzungen über zukünftige Ergebnisse zu machen" (Larose/Larose 2015: 4), gewinnen Ansätze der Zukunftsvorhersage zur Optimierung von Strategien und Handlungen in der Gegenwart noch stärker an Bedeutung. Dies gipfelt bisweilen in der Annahme, dass wir bald in einer "prädiktiven Gesellschaft" leben werden (Davenport 2016: xix).
Auch wenn dies eine überspitze Generalisierung sein mag, Tatsache ist doch, dass die prädiktive Verfahren einen bedeutenden Einfluss auf die Gegenwartsgesellschaft haben - und in der Tat einen noch größeren Einfluss in der Zukunft haben werden. Bereits jetzt sind sie ein entscheidenden Faktor, wenn es um Entscheidungsfindungen, Bewertungsprozesse oder Klassifizierungspraktiken in ebenso zahlreichen wie unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen geht. Seien es beispielsweise recommender-Systeme im Online-Handel bzw. auf digitalen Plattformen (Jannach et al. 2010), Prognosesoftwares in der Polizeiarbeit (Kaufmann et al.) und dem Management von globalen Lieferketten (Heimstädt/Dobusch 2021), Vorhersagen zu klimatischen Veränderungen (Aykut 2019), Praktiken des predictive nursing (Carroll 2019) oder der Wirtschaftsprognostik (Beckert 2018; Reichmann 2018): überall werden statistisch fundierte, algorithmisch mediatisiere Verfahren genutzt, um möglichst große Datenmengen nach korrelativen Mustern zu analysieren, zukünftige Ereignisse und Dynamiken vorherzusagen und mithin zukunftsbezogene actionability herzustellen. Obwohl alle der gegenwärtigen Vorhersagemethoden den altbekannten Ansatz teilen, prognostisches Wissen über Musterkennung und Regelmäßigkeitsdetektion in historischen Daten zu kreieren, um aus diesen Erfahrungen zukünftige Entwicklungen zu extrapolieren (Kaufmann et al. 2019; Nassehi 2019) - eine Technik, die von Aradau und Blanke (2017: 378) treffend als "prospective retrodiction" bezeichnet wird -, signalisieren wachsende Rechenleistungen und die zunehmende Verfeinerung der Prädiktionsmodelle durch machine learning eine epistemische Verschiebung in den Vorhersagepraktiken. Obwohl diese Techniken freilich immer noch auf die Vergangenheit zurückgreifen, versprechen sie, genuin neue Verbindungen in algorithmisch analysierten (vergangenheitsbezogenen) Daten zu finden, die auf korrelativ-assoziativen Logiken beruhen und sich mithin von konventionellen probabilistischen Techniken der prädiktiven Wissensproduktion unterscheiden (Esposito 2021).
In diesem Seminar sollen ebendiese epistemischen Effekte von predictive analytics diskutiert und dabei insbesondere alte und neue Prädiktionspraktiken nebeneinander und gegenüber gestellt werden. Gleichzeitig wollen wir fragen, was die jeweiligen Gründe für die Entwicklung und Implementierung der Vorhersagetechniken waren und sind, die in einigen zentralen Gesellschaftsbereichen in unmittelbaren Zusammenhang zu aktuellen gesellschaftlichen Spannungen und Krisen - wie z. B. den Klimawandel oder dem demografischen Wandel - stehen. Welche Rolle spielen bei entsprechenden Legitimationsdiskursen Omnipotenz- und Objektivitätsnarrative (und -mythen) von big data und data mining? Und nicht zuletzt: Welche Entgrenzungseffekte der Sozialwelt sind damit verbunden? Wie spielen Menschen und Algorithmen im Rahmen von predictive analytics zusammen und wie sind solche Verfahren regulierbar?
Adam, Barbara (2004): Time. Cambridge/Malden: Polity Press.
Adam, Barbara; Groves, Chris (2007): Future Matters. Action, Knowledge, Ethics. Leiden/ Boston: Brill.
Aradau, Claudia; Blanke, Tobias (2017): Politics of prediction: Security and the time/space of governmentality in the age of big data. In: European Journal of Social Theory 20 (3): 373-391.
Aykut, Stefan C. (2019): Reassembling Energy Policy: Models, Forecasts, and Policy Change in Germany and France. In: Science & Technology Studies 32 (4): 13-35.
Beckert, Jens (2018): Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp.
Carroll, Whende M. (2019): The Synthesis of Nursing Knowledge and Predictive Analytics. In: Nursing Management 50 (3): 15-17
Davenport, Thomas H. (2015): Foreword. In: Siegel, Eric: Predictive Analytics. The Power to Predict who will Click, Buy, Lie, or Die. Hoboken: Wiley, S. xvii-xix.
Esposito, Elena (2021): Unpredictability. In: Bonde Thylstrup, Nanna; Agostinho, Daniela; Ring, Annie; D'Ignazio, Catherin; Veel, Kristin (Hrsg.): Uncertain Archives: Critical Keywords for Big Data. Cambridge/London: MIT Press, 533-539.
Heimstädt, M. and Dobusch, L. (2021). Riskante Retweets: 'Predictive Risk Intelligence' und Interessenvertretung in globalen Wertschöpfungsnetzwerken. In: Industrielle Beziehungen 28 (2): im Erscheinen.
Jannach, Dietmar; Zanker, Markus; Felfernig, Alexander; Friedrich, Gerhard (2010): Recommender Systems: An Introduction. Cambridge et al: Cambridge University Press.
Kaufmann, Mareile; Egbert, Simon; Leese, Matthias (2019): Predictive Policing and the Politics of Patterns. In: The British Journal of Criminology 59 (3), 674-692
Larose, Daniel T.; Larose, Chantal, T. (2015): Data Mining and Predictive Analytics. 2nd Edition. Hoboken: Wiley.
Reichmann, Werner (2018): Wirtschaftsprognosen. Eine Soziologie des Wissens über die ökonomische Zukunft. Frankfurt am Main/New York: Campus.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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30-HEPS-HM2_a Hauptmodul 2: Wissenschaft und Gesellschaft | Wissenschaft und Gesellschaft I | Studienleistung
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Wissenschaft und Gesellschaft II | benotete Prüfungsleistung
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Studieninformation | |
30-M-Soz-M15a Rechts- und Regulierungssoziologie a | Seminar 1 | Studienleistung
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Seminar 2 | Studienleistung
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Studieninformation | |
- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation | |
30-M-Soz-M15b Rechts- und Regulierungssoziologie b | Seminar 1 | Studienleistung
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Studieninformation |
Seminar 2 | Studienleistung
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Studieninformation | |
- | benotete Prüfungsleistung | Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Als Prüfungsleistung erwarten wir Hausarbeiten im Umfang von 6000 bis 8000 Wörtern. Studienleistung: 2x Textstatements.
Zu dieser Veranstaltung existiert ein Lernraum im E-Learning System. Lehrende können dort Materialien zu dieser Lehrveranstaltung bereitstellen: