Der Naturalismus hat schwankende Konjunktur; mal gilt er als hoffnungslos obsolet, also unattraktiv, mal durch seine Insistenz auf Kritik und 'Wahrheit' in der Kunst als durchaus an der Zeit, nicht selten auch als erstes Wetterleuchten der Moderne.
Versucht werden soll ein Überblick dieser von Frankreich ausgehenden, in Deutschland jedoch recht kurzlebigen, aber eigenständigen Bewegung. Émile Zola ist fraglos der erste Superstar der Weltliteratur, der den französischen Realismus radikalisiert und, ebenfalls ein Novum, versucht, Literatur auf eine 'wissenschaftliche' Grundlage zu stellen: Milieurecherche, 'teilnehmende Beobachtung' und Vererbungslehre sind einige Eckpfeiler seiner schon zu Lebzeiten höchst umstrittenen Poetik des "roman expérimental". Ihrer ungeachtet ist er ein temperamentvoll-packender Erzähler, wie ihn die deutsche Literatur (wenigstens zeitgenössisch) niemals aufzubieten hatte, weshalb ich mit Ihnen gern zwei Romane aus seinem 20bändigen Zyklus der "Rougon-Macquart" läse, dessen Einzelwerke ich Ihnen in der Vorbesprechung (online) jeweils knapp vorstellen werde, damit wir gemeinsam entscheiden können, welche Texte den Zuschlag erhalten.
Der deutsche Naturalismus hingegen, von Anbeginn fraktioniert und sich grundsätzlich polemisch verhaltend, hat keine Romane hinterlassen, die die Lektüre heute noch verlohnten; seine Stärke liegt in den kleinen Formen novellistischer 'Skizzen/Studien', experimenteller Kurzprosa, Agitation gegen das Kulturverständnis des Wilhelminismus - und natürlich im Drama von Gerhart Hauptmann, Holz/Schlaf und bereits der eigenen Parodie (etwa Conrad Alberti, "Im Suff!"). Sprechen müssen wir auch über die heute unangenehm wirkenden Diskurselemente von kulturpolitischem Nationalismus, 'Race', 'Blut' und Sozialhygienik; ebenso über das, was wohl naturalistische Lyrik sein könnte (Sie werden erstaunt sein).
Kurzum, auf Sie käme die Lektüre von zwei Romanen und drei Dramen zu, weshalb Sie für das Blockseminar Anfang Februar 2023 etwas in Vorleistung gehen müssten.
Ob wir uns den Abgleich mit dem skandinavischen 'analytischen' Drama Ibsens und Strindbergs leisten; prüfen, ob sich Fontanes liegen gelassene "Mathilde Möhring", wie oft kolportiert, dem Naturalismus nähert oder uns den Blick in die kleine Prosa de Maupassants, des frühen Huysmans oder Giovanni Vergas ("verismo") erlauben, sollte in der Vorbesprechung, die ich Anfang/Mitte Dezember ansetzen möchte, ebenfalls gemeinsam entschieden werden.
Nach dem zu Beginn unvermeidlichen Blick in die verschiedenen Poetiken (und Polemiken) aber wollen wir uns ganz auf die Werkanalysen der Einzeltexte konzentrieren, um zum Ende hin entscheiden zu können, was am europäischen Naturalismus 'modern' ist - und was nicht.
Lektürebereitschaft; Grundkenntnisse der europäischen Literarhistorie
Dieter Borchmeyer, "Der Naturalismus und seine Ausläufer", in: Victor Zmegac (Hg.), Deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. II, Königstein/Ts. 1980, 153-233 (beste Gesamtdarstellung);
Wolfgang Bunzel, Einführung in die Literatur des Naturalismus, zweite Aufl. Darmstadt 2011 (keine neuen Erkenntnisse);
Günther Mahal, Naturalismus, München 1975 (Standardwerk);
Karl Korn, Zola in seiner Zeit, FfM 1980 (exzellente Gesamtdarstellung; für wenige Euro antiquarisch erhältlich);
Hans-Jörg Neuschäfer, Der Naturalismus in der Romania, Wiesbaden 1978 (schmaler Überblick)
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Studienleistung: Referat und Thesenpapier oder kürzerer wissenschaftlicher Text von ca. fünf bis sechs Seiten zu Einzelproblemen
Benotete Einzelleistung: Hausarbeit im Umfang von ca. 15 Seiten