Welche Macht hat Zivilgesellschaft? Im Rahmen der Lehrforschung wird zunächst in Theorien zur Zivilgesellschaft eingeführt, die diese im Kontext diskursiver Macht sehen. Anschließend werden Ansätze zur Diskursanalyse und Beispiele ihrer Anwendung analysiert, um die eigene empirische Forschung vorzubereiten. Anhand einer Diskursanalyse der Debatte um Biokraftstoffe wird der Frage nachgegangen, welche Teile der Zivilgesellschaft wie viel Einfluss auf Öffentlichkeit und Politik ausüben konnte. Aufgabe ist es, den Diskurs, dahinter stehende Akteurskonstellationen und ihre Wirkung auf Entscheidungsträger zu analysieren.
Ausführlicher Kommentar
Die "Zivilgesellschaft" fand in den 1990er Jahren große Beachtung als ein Akteur, der zunehmend Einfluss auf politische Prozesse gewann. Diesen Einfluss kann sie ausüben, indem sie Themen an die Öffentlichkeit bringt, sich einmischt und Debatten prägt sowie direkten Einfluss auf Politiker zu gewinnen sucht. In der wissenschaftlichen Reflexion darüber, wer die Zivilgesellschaft und was ihre Rolle ist, gehen die Interpretationen jedoch auseinander. Zu unterscheidende Positionen sind hierbei jene von Jürgen Habermas auf der einen und den Neogramscianern sowie Michel Foucault auf der anderen Seite.
Habermas verankert Zivilgesellschaft in der "Lebenswelt", den neuen sozialen Bewegungen (NSB) und ihnen nahe stehenden NGOs, die als gesellschaftliches Korrektiv zu den Interessen des Staatsapparates und des Marktes fungieren. Über die Öffentlichkeit tragen sie alternative Argumente und Anliegen an die Entscheidungsträger heran, welche dann auf Grundlage rationaler Überlegungen zu ihren Entschlüssen gelangen. Habermas basiert seine "Theorie des kommunikativen Handelns" auf der Annahme eines herrschaftsfreien Diskurses, der - zumindest annähernd - durch die freien Medien gewährt werde.
Antonio Gramsci betrachtete die "zivile Gesellschaft" hingegen als gesellschaftlichen Raum, in dem mit diskursiven Mitteln um Vorherrschaft und Einfluss gerungen wird. Auf heutige Zeiten bezogen, gehören zu ihren Akteuren nicht nur NGOs, NSB, sozial engagierte kirchliche Akteure oder so genannte "Gutmenschen", sondern auch die Verbände der Wirtschaft und andere sich am öffentlichen Diskurs beteiligende Akteure wie Think Tanks und die in den Medien viel zitierten Experten. Foucault vertritt eine verwandte Position, wenn er Diskurse nicht als herrschaftsfrei, sondern als Mittel zur Produktion und Reproduktion von Macht begreift.
Zu Beginn dieser Lehrforschung wird das Für- und Wider dieser Theorien erörtert, durch methodische Ansätze zur Diskursanalyse ergänzt und anhand von Beispielen aus der empirischen Forschung mögliche Wege der Operationalisierung betrachtet. Anschließend werden in Gruppenarbeit eigene empirische Forschungen zur Debatte um Biokraftstoffe unternommen.
Eine Diskursanalyse benutzt dabei wie die qualitative Inhaltsanalyse und die sozialwissenschaftliche Hermeneutik interpretative Verfahren, legt aber größeren Wert auf die Kontextualisierung von Redebeiträgen, Stellungnahmen, Programmschriften etc. in übergeordnete Diskussionslinien und Machtkonstellationen an. Zur Diskursanalyse gehört auch die dezidierte Auseinandersetzung mit Diskurskoalitionen, d.h. mit Akteursgruppen, die sich mit den vorgetragenen Policy-Ansätzen und Grundüberzeugungen identifizieren oder sie gezielt nutzen, um in der Policy-Debatte bestimmte Interessen durchzusetzen.
Einführende Literatur
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Email: jeanette.schade@uni-due.de
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Soziologie / Bachelor | (Einschreibung bis SoSe 2008) | KF: Modul 5 | Leistungspunkte erst nach Abschluss der Phase II |