Die „Riester-Reform“ 2001 markiert einen Paradigmenwechsel in der deutschen Sozialpolitik. Zuvor (seit 1957) dominierte in der deutschen Alterssicherung die Gesetzliche Rentenversicherung, private (betriebliche und individuell-private) Vorsorge war im Vergleich zu anderen Ländern wenig entwickelt. Die Weltbank hatte bereits 1994 in einer einflussreichen Schrift derartige Systeme als „Ein-Säulen-Systeme“ kritisiert. Mit der Riesterreform wurde die private Vorsorge in Deutschland zu einem integralen und wachsenden Teil der Alterssicherung. Damit entstand ein neuer Markt für private Vorsorge, zugleich entwickelte sich der Sozialstaat im Bereich Alterssicherung von einem Leistungsstaat, der Wohlfahrtsgüter selbst oder durch staatsnahe Instanzen (hier: die Rentenversicherung) erbringt, zu einem (auch) „regulierenden Staat“, der die Produktion von Wohlfahrt an nicht-staatliche Akteure (hier: Versicherer, Banken, Investmentfonds) delegiert und diese regulierend rahmt.
Der Wandel der Alterssicherung ist Teil einer breiteren Bewegung, die mit Begriffen wie Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung und Vermarktlichung beschrieben wird und seit den 1980er Jahren, in Deutschland erst seit den 1990ern, in entwickelten Ländern zu beobachten ist. Öffentliche Infrastrukturbereiche wie Telekommunikation, Energie, Bahn und Bereiche der Sozialpolitik wie Pflege, Arbeitsvermittlung und Krankenhäuser waren schon früher betroffen. Hierin wird vielfach eine bloße quantitative Verschiebung von Staat zu Markt gesehen. Neuere Forschungen gehen demgegenüber davon aus, dass Privatisierungsprozesse als Entstehung neuer Ordnungen zu analysieren sind: als Entstehung von „Wohlfahrtsmärkten“ und von regulativer Staatlichkeit. Wohlfahrtsmärkte sind Märkte, in Bezug auf die der Staat einen besonderen „sozialen“ Gestaltungsanspruch geltend macht. Regulative Staatlichkeit ist dementsprechend die andere Seite von Wohlfahrtsmärkten und meint deren regulierende Rahmung durch die Politik.
In diesem neueren Forschungsgebiet stellen sich Fragen wie: Wie unterscheiden sich Wohlfahrtsmärkte (hier: Altersvorsorgemärkte) und dort operierende Anbieter von anderen Märkten bzw. anderen Marktanbietern? Wie ist die Relation zwischen Wohlfahrtsmärkten und Staat? Welcher Wandel des Wohlfahrtsstaats geht mit dieser Entwicklung einher? Welche Einstellungen und ordnungspolitischen Konzeptionen haben die Marktakteure und die relevanten politischen Akteure? Zeigt die regulierungsstaatliche Delegation von Wohlfahrtsproduktion an Märkte gesellschaftspolitisch einen „surrender of public responsibility“ an (N. Gilbert 2002), also einen Rückzug des Staates aus öffentlicher Verantwortlichkeit, oder ist sie Ausdruck der Idee „market means, welfare ends“ (P. Taylor-Gooby), also der Nutzung von Marktmechanismen zur effizienteren Verfolgung derselben sozialen Ziele, die schon der herkömmliche, „produzierende“ Wohlfahrtsstaat verfolgte?
In der Lehrforschung werden die neuen privaten Altersvorsorgemärkte und die darauf bezogene regulative Staatlichkeit empirisch untersucht. Wie in einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt werden die Hauptschritte des wissenschaftlichen Forschungsprozesses durchlaufen (theoretische Arbeit zum Thema, Formulierung einer Forschungsfrage, Entwurf eines Forschungsdesigns, Erstellung eines Erhebungsinstruments, Erhebung, Erstellung eines Auswertungsschemas, Auswertung, Analyse, Abschlußbericht). Die Erhebung wird nur theoretisch-methodisch angesprochen, da auf vorliegende Daten zurückgegriffen wird (unter Umständen können ergänzende Interviews neu durchgeführt werden). Der empirische Schwerpunkt liegt auf der atlas-ti gestützten Analyse von Experteninterviews mit wirtschaftlichen und politischen Akteuren im Bereich private Altersvorsorge (Versicherer, Banken, Investmentfonds und ihre Verbände; Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften; Politik, Verwaltung, Behörden, Praktiker der betrieblichen Altersversorgung). Zugrunde liegt ein erstklassiger Datensatz aus einem großen DFG-Forschungsprojekt.
Die Veranstaltung umfasst folgende spezifischen methodischen Angebote:
Es besteht also die Chance, in einem gesellschaftspolitisch zentralen Gebiet authentisch zu forschen und sozialwissenschaftliche Methoden einzuüben.
Im Wintersemester 2009/2010 folgt der zweite Teil der Lehrforschung mit ebenfalls 3 SWS. Die Lehrforschung ist dem Profil 2 zugeordnet.
Absolvierung des Einführungsmoduls. Erwünscht sind Kenntnisse in den Bereichen Sozialpolitik und/oder Märkte.
Leisering, Lutz, 2007: Privatisierung der Alterssicherung als komplexe Ordnungsbildung. Zur Entstehung von Wohlfahrtsmärkten und regulativer Staatlichkeit. S. 189-219 in: Ulrich Becker u.a. (Hg.), Alterssicherung in Deutschland. Baden-Baden: Nomos.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Studiengang/-angebot | Gültigkeit | Variante | Untergliederung | Status | Sem. | LP | |
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Soziologie / Diplom | (Einschreibung bis SoSe 2005) | 2.5 | Wahlpflicht | HS | |||
Soziologie / Master | (Einschreibung bis SoSe 2012) | Modul 7.1 | Wahlpflicht | 7.5 |