230431 Um 1900: Naturalismus und Mythologie: Gerhart Hauptmann (= Theorie und Geschichte der Literatur des 19. Jahrhunderts im Studienmodell 2002) (S) (WiSe 2016/2017)

Inhalt, Kommentar

Der Epochenumbruch um 1900 wird exemplarisch an dramatischen und erzählerischen Texten Gerhart Hauptmanns behandelt, darunter Die Weber, Der Biberpelz, Die Ratten; Bahnwärter Thiel sowie Die Insel der Großen Mutter.

„Die letzten deutschen Dramen, die noch Dramen sind, schrieb Gerhart Hauptmann“, so formuliert es Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas [1956]. Das letzte Drama, das in diese Kategorie fällt, trägt den Titel Die Ratten, 1911 uraufgeführt im Lessing-Theater in Berlin. Hauptmanns Werk schließt demnach die Krise der dramatischen Form gleichsam ab, indem er noch einmal deren Gelingen vorführt. Der Autor unternimmt dies als Klassizist und Moderner gleichermaßen, als Naturalist wie als Mythologe, als Dramatiker der offenen wie der geschlossenen Form. Die Ratten sind ‚lebensecht‘ und doch ein zutiefst durchkonstruiertes und autopoietisches Stück. Es scheint, als sollte der Dichter des „Sowohl-Als-auch“ sich mit diesem Werk ein eigenes Denkmal gesetzt haben, bevor er, ein Jahr später, mit dem Nobelpreis endgültig etabliert sein wird.

Hauptmanns Stück löst, nach Szondi, ein, was die Klassiker des modernen bürgerlichen Dramas vorgegeben haben: Ibsen und Tschechow, Strindberg und Maeterlinck. Aber er, der „Dichter des sozialen Mitleids“, der Weber oder des Biberpelz, erringt diese singuläre Position in der Krise des Dramas nicht durch Rückwendung in die Vergangenheit, in die Erinnerung und die Utopie, durch Fixierung auf den Monolog oder durch Verweigerung der Handlung im drame statique, sondern durch Flucht in eine „fremde Gegenwart“. „Indem man soziale Stufen hinunter stieg, entdeckte man Archaisches in der Gegenwart: man drehte am Zifferblatt des objektiven Geistes den Zeiger zurück – und wurde als Naturalist selbst so zum ‚Modernen‘.“

In den Ratten wird diese Tendenz des naturalistischen Dramas – und der Stücke Hauptmanns insbesondere – Teil der poetologischen Reflexion. Es ist eine ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘, die hier eingezogen wird als Spiel im Spiel und doch den Gestus der naturalistischen Wirklichkeitsvorstellung nicht verlässt. Wir werden sehen, wie Gerhart Hauptmann durch die Mosaikstruktur von Handlungsort, Bühnengeschehen und Figurenkonstellation sowie durch die sozialen Schichtungen der Sprache in den Ratten, diese implizite Paradoxie entfaltet. Zugleich wird der Mythos der Magna Mater bebildert und ein mythologisches Konzept des Muttertums ausgebreitet.

Ein gutes Jahrzehnt später wird es ebenfalls um Mutterschaft als zentrales Thema gehen, doch scheint Hauptmanns außergewöhnliche Gabe der sprachlichen Markierung sozialer und individueller Differenzierung und Heterogenität nun ganz verschwunden – wie auch jede Reminiszenz an den Naturalismus. War die Sprachverwendung schon in den Ratten nicht (mehr) mimetisch gemeint (wie im striktesten Versuch, die Wirklichkeit einzufangen, dem – erzählerischen – Sekundenstil, etwa im Bahnwärter Thiel), so zerfällt hier jedwede sprachliche Modulation. In Die Insel der Großen Mutter oder das Wunder von Île de Dames. Eine Geschichte aus dem utopischen Archipelagus reden alle Beteiligten, auch die aus Berlin stammenden, in einem gehoben wirkenden Ton, ja fast in einem hymnischen Singsang. In den Ratten war das Berlinerische der Mietskasernenbewohner so wenig lupenrein wie der wienernde Tonfall der Rütterbusch oder die polnische Färbung der Piperkarcka. Tucholsky hat das früh bemerkt. Das Stück sei „in einem völlig verfehlten Dialekt geschrieben, in einem Jargon, den es überhaupt nicht gibt und in dem doch das ganze Herz dieser Stadt schlägt“.

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