Wenn nach Individualität in der Vormoderne gesucht wird, dann lautet die Frage häufig: Wann beginnt sie? In der Renaissance? Im 12. Jahrhundert? Oder sogar davor? Doch ganz gleich welche Geburtsstunde nun überzeugender ist, wird damit am Ende doch häufig nur eine Geschichte vom Ursprung der Moderne erzählt, die sich in der Selbsterkenntnis eines unabhängigen Individuums angekündigt habe.
In diesem Seminar soll deshalb von einer anderen These ausgegangen werden. Sie besagt: Das Individuum muss nicht ‚geboren‘ werden, denn auch Menschen in der Vormoderne waren Individuen – nur eben in anderer Hinsicht als in der Moderne. Durch diese Herangehensweise könnten Individuum und Individualität an analytischer Schärfe für die Beschreibung der vormodernen Gesellschaft gewinnen. Was aber ist das Besondere ‚vormoderner‘ Individualität und wie kann sie sinnvoll beschrieben und analysiert werden? Auf der Suche nach eigenen Antworten widmet sich das Seminar deshalb ganz der Lektüre einiger vielversprechender Theorieangebote.
Eva Kormann etwa betonte die hohe Relationalität vormoderner Selbstverortung und prägte dafür den Begriff der heterologen Subjektivität. Sie möchte außerdem dem Begriff ‚Autobiografie‘ vom obsolet gewordenen Konzept des autonomen Subjekts befreien. Subjektivität – so hebt sie hervor – muss in ihrer Form dabei immer historisch betrachtet werden. Niklas Luhmann wiederum stellte die Beschaffenheit der Individualität in Wechselwirkung zu den gesellschaftlichen Differenzierungsformen. Während in der Vormoderne jedes Individuum ganz über ein einziges Subsystem seinen Platz in der segmentär-stratifikatorischen Gesellschaftsordnung finde und sich daher inklusiv beschreibe, könne in der funktional differenzierten Ordnung der Moderne niemand nur noch einem einzigen Teilsystem angehören, weshalb sich das Individuum über Exklusion verorte.
Neben diesen beiden grundlegenden Konzeptionen, mit denen wir uns intensiv auseinandersetzen möchten, werden wir geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur lesen, um die Theorie auch in Anwendung beobachten zu können. Für eigene kleine Versuche möchten wir ein paar dazu passende Quellen diskutieren.
Was können Sie erwarten, wenn Sie sich entscheiden, dieses Seminar zu besuchen?
- Intensive Diskussionen
- Denkanstöße zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in der Vormoderne
- Anwendung soziologischer Theorien in der Geschichtswissenschaft
- Einblicke in Forschung zur vormodernen Individualität
Bereitschaft zur Lektüre englischsprachiger und soziologischer Fachliteratur.
- ARLINGHAUS, Franz-Josef, Conceptualizing Pre-Modern and Modern Individuality. Some Theoretical Considerations, in: ARLINGHAUS, Franz-Josef (Hg.), Forms of Individuality and Literacy in the Medieval and Early Modern Periods, Turnhout 2015, S. 1-46.
- CORRADINI, Richard; Matthew GILLIS; Rosamond MCKITTERICK und Irene van RENSWOUDE (Hgg.), Ego Trouble. Authors and Their Identities in the Early Middle Ages (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Denkschriften, 385. Band / Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, 15), Wien 2010.
- JANCKE, Gabriele und Claudia ULBRICH, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterordnung, Jg. 10 (2005), S.
- KORMANN, Eva, Heterologe Subjektivität. Zur historischen Varianz von Autobiographie und Subjektivität, in: PUW DAVIES, Mererid; Beth LINKLATER und Gisela SHAW (Hgg.), Autobiography by Women in German, Oxford u.a. 2000, S. 87-104.
- KORMANN, Eva, Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert (Selbstzeugnisse der Neuzeit 13), Köln -- Weimar -- Wien 2004. (Zugl. Habil. Univ. Karlsruhe 2002.)
- KRAMER, Susan R. und Carolin W. BYNUM, Revisiting the Twelfth-Century Individual. The Inner Self and the Christian Community, in: MELVILLE, Gert und Markus SCHÜRER (Hgg.), Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum16), Münster -- Hamburg -- London 2002, S. 57-85.
- LUHMANN, Niklas, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1039), Frankfurt am Main 1993.
- SCHLOTHEUBER, Eva, Norm und Innerlichkeit. Zur problematischen Suche nach den Anfängen der Individualität, in: Zeitschrift für historische Forschung, Jg. 31 (2004), S. 329-357.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Modul | Veranstaltung | Leistungen | |
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22-2.1 Theoriemodul | Grundseminar Historiographie | Studieninformation | |
Grundseminar Theorien in der Geschichtswissenschaft | benotete Prüfungsleistung
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Studieninformation | |
25-FS-EM Einführungsmodul | E2: Einführende Veranstaltung aus den Fakultäten | Studieninformation | |
E3: Einführende Veranstaltung aus den Fakultäten | Studieninformation | ||
25-FS-GM Grundlagenmodul | E2: Einführende Veranstaltung aus den Fakultäten | Studieninformation | |
E3: Einführende Veranstaltung aus den Fakultäten | Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.
Studiengang/-angebot | Gültigkeit | Variante | Untergliederung | Status | Sem. | LP | |
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Studieren ab 50 |
Im Seminar werden wir gemeinsam Forschungsliteratur, soziologische Grundlagentexte sowie beispielhaft einige Quellen besprechen. Eine Vorbereitung der als obligatorisch zur Verfügung gestellten Seminarliteratur wird erwartet.
Zu dieser Veranstaltung existiert ein Lernraum im E-Learning System. Lehrende können dort Materialien zu dieser Lehrveranstaltung bereitstellen: