Was wäre geschehen, wenn Stauffenberg nur mehr Sprengstoff in der Wolfsschanze verwendet hätte? Wie wäre die Geschichte wohl ausgegangen, wenn das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 erfolgreich gewesen wäre?
Solche Fragen waren lange Zeit kein Gegenstand in der historischen Forschung. Der simple und augenscheinlichste Einwand gegenüber derartigen Gedankenspekulationen lautete zumeist: Warum sich mit etwas beschäftigen, dass nicht mehr zu ändern ist? Es ist passiert, also denken wir doch nicht über ein hypothetisches „Was wäre, wenn…?“ nach; die eigentliche Geschichte bleibt davon unberührt.
Die Geschichtstheorie hat eine solche Idee der kontrastiven Betrachtung von Geschichtsprozessen ebenso ignoriert. Obgleich in der Theorie der methodologische Wert von fiktionaler und medial verfremdeter Geschichte in Form von Filmen oder Comics schon lange erkannt wurde, werden kontrafaktische Überlegungen als substanzlose und wenig ertragreiche Spielerei abgetan. Die fundamentale Kritik von Joachim Rohlfes an derartigen hypothetischen Spekulationen gilt anscheinend immer noch: „[Kontrafaktische Geschichte] vermag auf Defizite und verpasste Chancen aufmerksam zu machen und schärft insofern den Blick für vergangene Handlungsspielräume. Sie gerät aber ins Schlingern, wenn sie die Vergangenheit nicht realisierten Alternativen zum Kriterium ihres historischen Urteils macht. Sie ergeht sich dann in einer „Geschichte im Optativ“, in der die bloß vorgestellte „Gegengeschichte“ mit der wirklichen auf einer Stufe steht.“
Die fachtheoretische Forschungsliteratur zum Einsatz von kontrafaktischen Überlegungen in der Geschichtswissenschaft ist dürftig. Zwar wurden vereinzelt Monographien mit kontrafaktischen Bezügen und Lernschriften publiziert. Eine konzeptionelle Erfassung dieses Themas unter gezielt methodischen, theoretischen und didaktischen Aspekten liegt jedoch nicht vor. So wird in den didaktischen Hand- und Einführungsbüchern kontrafaktische Geschichte nicht beachtet; auch das jüngst erschienene Wörterbuch zur Geschichtsdidaktik enthält keinen Eintrag. Nur langsam wird in der historischen Forschung das Erkenntnispotenzial von solchen kontrastiven Überlegungen erkannt. Die systematische Erschließung des erkenntnistheoretischen und epistemologischen Werts steht jedoch gerade erst am Anfang und bedarf der ständigen Revision. Dennoch einigt sich die Historikerzunft in dem Punkt, dass kontrafaktische Gedankenexperimente als methodisches Instrumentarium einen ernsthaften Beitrag zur Analyse kausaler Gemengelagen an einem der ‚Wendepunkte’ der Geschichte leisten können.
Das Seminar verfolgt das Ziel, den epistemologischen Wert von kontrafaktischen Gedankenexperimenten an ausgewählten Beispielen zu überprüfen, um sodann daraus ein methodisches Instrumentarium für den Einsatz geschichtstheoretischer Überlegungen zu entwickeln.
Grundlegend für eine Beschäftigung mit kontrafaktische Geschichte ist daher folgende Literatur: A. Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn..., Göttingen 2001; G. Tellenbach, „Ungeschehene Geschichte“ und ihre heuristische Funktion, in HZ 258 (1994), 296-316; M. Salewski, Was Wäre Wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte: Brücken zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Stuttgart 1999; K. Brodersen (Hg.), Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte, Darmstadt 2000, darin grundlegend: G. Weber, Vom Sinn kontrafaktischer Geschichte 11-13; N. Ferguson (Hg.), Virtual History. Alternatives and Countafactuals, New York 1997 (dt.: Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1999); R. Cowley (Hg.), What if?, New York 1999; J.C. Squire (Hg.), Wenn Napoleon bei Waterloo gewonnen hätte - und andere abwegige Geschichten, München 1999, E. Simon (Hg.), Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod - und andere abwegige Geschichten, München 1999; A. Demandt, Statt Rom. Ein historisches Gedankenspiel, in: QS 44 (1996), 71-94; G. Rosenstein, The World Hitler Never Made. Alternate History and the Memory of Nazism, Cambridge 2005. Enttäuschend, weil unergiebig ist E. Carrère, Kleopatras Nase. Kleine Geschichte der Uchronie, Berlin 1993; J. Losehand, Die letzten Tage des Pompeius, Wien 2008, 329-364.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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22-2.1 Theoriemodul | Grundseminar Theorien in der Geschichtswissenschaft | benotete Prüfungsleistung
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Studieninformation |
Die verbindlichen Modulbeschreibungen enthalten weitere Informationen, auch zu den "Leistungen" und ihren Anforderungen. Sind mehrere "Leistungsformen" möglich, entscheiden die jeweiligen Lehrenden darüber.