220105 Revolten in Rußland: Von der Zeit der Wirren bis zum Ende des Ancien Régime (Ü) (WiSe 2008/2009)

Die sowjetische Geschichtsschreibung hatte eine besondere Vorliebe für die russischen "Bauernkriege" der frühen Neuzeit. So bezeichnete sie v.a. die großen Volksaufstände des 17. und 18. Jahrhunderts unter der Führung von Bolotnikov, Razin, Bulavin und Pugačev. Tatsächlich spielten Bauern in diesen Widerstandsbewegungen jedoch kaum eine Rolle. Angesichts der Trägerschichten (Kosaken, kleinere Dienstleute, Strelitzen, d.h. v.a. Krieger unterschiedlicher Kragenweite) scheint der Begriff des "Klassenkampfes" kaum sinnvoll, verliefen doch die Konfliktlinien oftmals nicht eindeutig entlang sozialer Schichtungen. Hinzu kommt, daß sich die Kosaken in den Revolutionen des 20. Jahrhunderts im "konterrevolutionären" Lager finden lassen. Dieses Paradoxon mag dazu beigetragen haben, daß man in der SU deren vormalig "progressive" Rolle nicht überbetonen wollte. Völlig totgeschwiegen wurde hingegen der wirkliche Bauern-Krieg, der sich während Bürgerkrieg und Kollektivierung gegen die Sowjetherrschaft richtete. Hier befand sich mit den Bauern das Gros der vom Ancien Régime ausgebeuteten Bevölkerung in einem verzweifelten Kampf gegen die neuen Herrscher, die sich derweil die Überwindung jeglicher Ausbeutung des Menschen durch den Menschen auf ihre Fahnen schrieben.
In der Übung werden anhand von ausgewählten Texten und Quellen die großen Revolten in Rußland und ihre Darstellung in der Geschichtsschreibung in Ost und West kritisch in den Blick genommen.

Literaturangaben

Heinz-Dietrich Löwe (Hrg.): Volksaufstände in Russland: von der Zeit der Wirren bis zur "Grünen Revolution" gegen die Sowjetherrschaft. Wiesbaden Harassowitz 2006; Paul Avrich: Russian Rebels 1600-1800. Allen Lane The Penguin Press. London 1972.