220026 "Eisenbahngeschichten": Die Überwindung von Raum und Zeit in der Historiographie (Russland, Europa, Nordamerika) (GSH) (SoSe 2006)

Wie selbstverständlich werfen Historiker, wenn sie über sich selbst und ihre Mitstreiter sprechen, mit "Bindestrich-Geschichten" um sich. Ob in wissenschaftlichen Publikationen oder in gesellschaftlichen Debatten, sie dienen meist dazu, die Legitimität des eigenen Tuns nicht zuletzt gegenüber den 'Geldgebern' der Forschung zu betonen. Während etwa die "Sozialgeschichte" als Paradigma über Jahrzehnte hinweg hoch gehalten wurde, dient sie heute für manchen selbsternannten Propheten der "Kulturgeschichte" als ein willkommener Pappkamerad. Wenn die "Technikgeschichte" lange belächelt wurde, so scheint sie heute vielerorts einen ehrbaren Platz einzunehmen. Was diese oder jene Geschichte war und was sie heute ist, schwankt selbst in den 'Definitionstexten' der Einführungsliteratur.

In diesem Grundseminar soll am Beispiel eines historischen Gegenstandes, der Eisenbahn in der europäischen Moderne, ein Spektrum von "Bindestrich-Geschichten" aufgezeigt werden. In der Praxis soll gewissermaßen erfahrbar gemacht werden, was ein technik- oder wirtschaftsgeschichtlicher Zugriff bei der Untersuchung und der Darstellung eines komplexen gesellschaftlichen Problems zu leisten vermochte. Wo liegen aber die Grenzen dieser Herangehensweisen und inwiefern schafft es die Kultur- oder Diskursgeschichte die "Eisenbahngeschichte" auf den Kopf zu stellen? Wie wenig kann die Ereignisgeschichte zum historischen Verständnis beitragen und warum ist sie trotzdem wichtig?

Zugleich bemüht sich diese Veranstaltung, den Teilnehmern eine Vielzahl der "Eisenbahngeschichten" zu erschließen: Von der Vernetzung der europäischen Städte, der Zivilisierung des amerikanischen Westens und der Kolonialisierung des Fernen Ostens im Zarenreich. Zwischen der industriellen Revolution und dem transnationalen "Orientexpress" wird immer wieder die Frage in den Mittelpunkt gerückt, wie die Eisenbahn den Menschen der Moderne tangierte, seine Wahrnehmungen veränderte und seine Denk- und Handlungshorizonte prägte.

Literaturangaben

Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2004, 3. Auflage; Wolfgang Kaschuba, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt/M. 2004.