Während die Historiker seit einiger Zeit dem 'Strukturbruch' der 1970er nachforschen (Übergang zur postindustriellen Gesellschaft, Erschöpfung utopischer Energien, Verdüsterung der weltpolitischen Lage, beinahe globale Wirtschaftskrise, Terrorismus usw.), hält sich die Germanistik mit der literarhistorischen Neubestimmung dieses chronisch diffusen Jahrzehnts noch zurück (als jüngere Sammlung von Einzelessays Helmut Böttiger, Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er - eine wilde Blütenzeit der deutschen Literatur, Göttingen 2021).
'Neue Subjektivität', das ist nur ein, aber vielleicht der wichtigste Strang der Literatur nach 1968, wenn man glaubt, dass Literatur etwas mit Sprache und Bewusstsein zu tun hat. Es ist die Literatur nach der Party, nach der Neoavantgarde und dem kurzen Boom des Dokumentarischen - nämlich diejenige der Einsicht, dass sich die Revolution nicht einstellen will, kurzum, des "normalen Scheiterns" (Jochen Schimmang 1979). Dazu gehören als zentrale Themen die Verhandlung der 'Beziehungskiste' (eine Vokabel aus der Zeit), die Aussichtslosigkeit politischer Radikalisierung, der fast immer holprige Übergang von der Universität ins Berufsleben (oder gar der riskante Entscheid, es als freier Schriftsteller zu versuchen), die Auseinandersetzung mit der Elterngeneration (schweigende Mehrheit oder gar Täter während des NS), v.a. aber die Entdeckung, dass auch Männer Gefühle haben, plötzlich sogar weinen dürfen. Schreibende Frauen hingegen werden gleichsam der 'Normalfall' und erproben u.a. literarische Experimente des radikalen Feminismus.
Dass hier vor zwar trüber Kulisse eine Literatur von durchweg exzellentem Handwerk (Reinhard Baumgart) entstanden ist, unterscheidet sie deutlich von der Gegenwartsliteratur. Überraschend dagegen ist, dass die DDR-Literatur der 1970er trotz der Systemdifferenz sehr ähnliche Problemlagen bearbeitet, weshalb einige Stichproben genommen werden sollten.
Im Überblick zeigt sich zudem, dass die besten Texte der 'Neuen Subjektivität' zur eher knappen Erzählung von 80-150 Seiten zählen; das Drama fällt fort, doch ein Blick auf 'die' lyrische Errungenschaft der 1970er, das Alltagsgedicht, gehört dazu.
Ich denke an die möglichen AutorInnen Peter Schneider, Irmtraut Morgner, Günter de Bruyn, Jochen Schimmang, Jürgen Theobaldy, Karin Struck, Verena Stephan, Peter Rosei, Monika Maron, Nicolas Born, Hans-Christoph Buch, Gerhard Roth, Peter Handke, Botho Strauß usw. Ob Bücher wie Max Frischs "Montauk", Thomas Bernhards fünf schmale autobiographische Bände 1975-82 oder Ulrich Plenzdorfs "Neue Leiden des jungen W." dazu gehören, sollte gemeinsam entschieden werden.
Vorbesprechung online Mitte Dezember.
Interesse an Literaturgeschichte der jüngeren Vergangenheit; Grundkenntnisse der Textanalyse
Reinhard Baumgart, Deutsche Literatur der Gegenwart. Kritiken, Essays, Kommentare, München 1994, 219-413;
Marcel Reich-Ranicki, "Anmerkungen zur Literatur der siebziger Jahre" (1979), in: Ders., Entgegnung. Zur deutschen Literatur der siebziger Jahre. Erweiterte Neuausgabe, München 1985, 17-35
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