Theodor W. Adorno (1903-1969), einer der Begründer und Hauptvertreter der Kritischen Theorie der sogenannten Frankfurter Schule, machte keinen Hehl daraus, dass er die „landläufige arbeitsteilige Trennung“ zwischen den Disziplinen nicht anerkannte: "Die Wissenschaften von der Gesellschaft und von der Psyche, soweit sie unverbunden nebeneinander herlaufen, verfallen gemeinhin der Suggestion, die Arbeitsteilung der Erkenntnis auf deren Substrat zu projizieren. Die Trennung von Gesellschaft und Psyche ist falsches Bewußtsein; sie verewigt kategorial die Entzweiung des lebendigen Subjekts und der über den Subjekten waltenden und doch von ihnen herrührenden Objektivität." Das Projekt einer kritischen Analyse der Gesellschaft konnte sich nicht beschränken auf reine Psychologie, reine Soziologie, reine Geschichtsphilosophie - jedoch: "Das falsche Bewußtsein ist zugleich richtiges, inneres und äußeres Leben sind voneinander gerissen" – und zwar aufgrund der historisch entwickelten gesellschaftlichen Organisation. Daher wendet sich Adorno ebenso gegen eine Synthese wie gegen die Trennung und Eigenständigkeit der Disziplinen, sondern richtet seine Hoffnung darauf, "daß die Insistenz auf einem Besonderen, Abgespaltenen, dessen monadologischen Charakter sprengt und in seinem Kern des Allgemeinen gewahr wird". In den von dieser Herangehensweise geleiteten Analysen Adornos finden sich auch immer wieder Überlegungen und Reflexionen zur Dialektik von Bildung und Erziehung.
Besonderer Bekanntheit erfreuen sich in der Pädagogik seine Radiogespräche und Vorträge, in denen er die Widersprüche, Chancen und Grenzen von Erziehung diskutierte. Andreas Gruschka allerdings hat in den letzten Jahren die unmittelbare pädagogische Indienstnahme von Adornos Radiogesprächen als unangemessen kritisiert und dafür andere Aspekte der Adornoschen Theorie in die Erziehungswissenschaft aufgenommen: vor allem den Begriff der "bürgerlichen Kälte". Wegweisend waren auch Adornos Überlegungen zur individuellen Genese autoritärer Charakterstruktur und ideologischer Muster, die er u.a. in den empirischen "Studien zum autoritären Charakter" anlegte. Seine "Theorie der Halbbildung" hingegen befasst sich mit der Unmöglichkeit von Bildung durch die "Verwandlung aller geistigen Inhalte in Konsumgüter" (Adorno). Die inhärente Erkenntnis, dass gute Erziehung noch keine Bildung garantiert, sondern eine „Veränderung jenes Ganzen, das seinem eigenen Gesetz nach heute weniger das Bewußtsein entfaltet als deformiert“(Adorno), die Voraussetzung von Bildung wäre, gehört wohl zu den zentralen Argumenten, die seine Kritische Theorie als eine „pädagogisch äußerst ungemütliche Position“ (Schäfer) erscheinen lassen, so dass viele PädagogInnen lieber einen großen Bogen darum machen. Die Analyse des Verhältnisses von Gesellschaft, Subjektivität und Erziehung kann jedoch verstanden werden als Bedingung einer kritischen (Selbst-) Reflexion der Pädagogik, die nicht in „Idealisierung der Praxis“ (Gruschka) verfallen will.
In diesem Lektürekurs beginnen wir mit einigen einführenden Überlegungen zur Position der Kritischen Theorie in der Wissenschaftsgeschichte und zu ihren Grundlagen, vor allem zur „Kritik der politischen Ökonomie“ (Marx) und dem Gesellschaftsbegriff. Im zweiten Schritt werden wir uns mit einigen Beiträgen Adornos zu Bildung und Erziehung auseinandersetzen und ihre Relevanz für die Pädagogik heute diskutieren. Lässt sich beispielsweise Adornos Argumentation für "den Abbau jeglicher Art von unerhellter Autorität vor allem in der frühkindlichen Erziehung" gegen die neuen populistischen Rufe nach uneingeschränkter Autorität und das aktuelle „Lob der Disziplin“ (Bueb) in der Erziehung stark machen?
Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz. In: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969.
Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. In: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969.
Adorno, Theodor W.: Erziehung - wozu? In: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969.
Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Entbarbarisierung. In: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969.
Adorno, Theodor W.: Gesellschaft. In: Soziologische Schriften I. GS Band 8.
Adorno, Theodor W.: Novissimum Organum. In: Minima Moralia. GS Band 4
Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter.
Adorno, Theodor W.: Tabus über den Lehrberuf. In: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969.
Adorno, Theodor W.: Theorie der Halbbildung. In: Soziologische Schriften I. GS Band 8.
Adorno, Thoedor W.: Philosophie und Lehrer. In: Kulturkritik und Gesellschaft. GS Band 10.2
Althaus, Gabriele: Die negative Pädagogik in Adornos Kritischer Theorie.
Berndt, Hermann: Theodor W Adorno: seine Gesellschaftstheorie als ungeschriebene Erziehungslehre. Ansätze zu einer dialektischen Begründung der Pädagogik als Wissenschaft
Gruschka, Andreas: Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Gesellschaft und Erziehung.
Gruschka, Andreas: Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit kritischer Theorie.
Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung.
Horkheimer, Max/ Adorno, Theodor W.: Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.
Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie. In: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze.
Kirchhoff, Christine: Die Möglichkeit als eine der Wirklichkeit fassen. Über den Erfahrungsbegriff Theodor W. Adornos.
Rhythmus | Tag | Uhrzeit | Format / Ort | Zeitraum |
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Studiengang/-angebot | Gültigkeit | Variante | Untergliederung | Status | Sem. | LP | |
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Erziehungswissenschaft (Kernfach) / Bachelor | (Einschreibung bis SoSe 2011) | Kernfach | BE 3.2 | 3/5 | AT oder EL (b) | ||
Erziehungswissenschaft (Kernfach) / Bachelor | (Einschreibung bis SoSe 2011) | Kernfach | BE 3.1 | 3/5 | AT oder EL (b) |